Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
schenkte seinen Lieblingswein, Lemora, in zwei Gläser ein, und ich saß ihm gegenüber auf dem hohen Holzstuhl, während wir unseren Wein tranken.
«Ich habe Ihre Geschichte gelesen», sagte er. Er nahm die Blätter, überflog sie und las laut: «‹Jeden Morgen erhob sie sich …›» Er blickte mich streng an. «Erhob? Und stieg zum Himmel empor, nehme ich an? Warum nicht einfach sagen: Sie stand auf. Verwenden Sie
nie erhob
.»
Ich hörte zerknirscht zu und verstand, dass «erhob» unentschuldbar war.
«Die Erzählung ist auf ihre Art recht gut», sagte Mr Sargeson. Enttäuschung stieg in mir auf. Ich beschloss, ihm keine Erzählungen mehr zu zeigen, und ich blieb bei diesem Beschluss und zeigte ihm später nur den Anfang meines Romans.
«Wenn Sie an einem Roman arbeiten», sagte Mr Sargeson, «dann müssen Sie einen Plan haben.»
Dann sagte er, er mache immer eine Personenliste. Er entsann sich, dass er als Kind, in der Vorstellung, er würde ein Buch schreiben, den Anfang von
Ivanhoe
abgeschrieben und in seiner Unschuld geglaubt hatte, er schreibe jetzt ein Buch; seine Mutter ertappte ihn dabei und hielt ihm eine Strafpredigt über die Sünde, die Werke anderer zu kopieren. Er hatte geglaubt, dass Bücher allen gehörten, dass sie in den Köpfen aller aus und ein gingen und dass jeder jedes Buch niederschreiben und ein Schriftsteller sein konnte.
Diese ersten Monate meines Aufenthalts in der Baracke waren ein unvergessliches Erlebnis: Frank Sargeson (ich lernte, ihn Frank zu nennen) und ich teilten miteinander Einzelheiten unseres Lebens, unserer Gedanken und Gefühle, die Lektüre von Büchern, die Abende beim Schachspielen (das er mir beibrachte), oder ich hörte den Gesprächen zwischen Frank und seinen vielen Freunden zu, die zum Abendessen kamen. Vor allem aber teilten wir unser Arbeitsleben, und mit seiner Ermutigung lernte ich, meinen Tag zu strukturieren. Noch immer verfolgten mich die Angst vor der Anstalt und Albträume über meine dortigen Erfahrungen. Ich war furchtbar scheu und erholte mich nur langsam von einem Zustand der Verschüchterung. Frank war beschützend und gütig. Erstviel später, als ich meine Bücher schrieb, begriff ich, wie groß, aber auch bereitwillig das unvermeidliche Opfer eines Teils seines Schriftstellerlebens gewesen war, das er mir gebracht hatte. Ich begriff auch, dass das Beschützen anderer, jeweils einer Person, eines alten oder kranken oder invaliden Freundes, während vielleicht zwei oder drei andere im Hintergrund darauf warteten, dass die Reihe an sie kam, für Frank eine in seinem Wesen verankerte Notwendigkeit war und parallel zu seinem Schreiben bestand.
Er war ein geschickter, erbarmungsloser Fragesteller, und nachdem ich ihm Näheres über meine Schulbildung erzählt hatte, sagte er leicht enttäuscht: «Also bist du doch keine Wilde!»
Er sprach mit Begeisterung von seiner Jugend, von seinem geliebten Onkel und der Farm im Waikato. Er sprach von seiner Reise durch Europa, zeigte mir die Sammlung von Ansichtskarten, und als er murmelte: «Ich werde diese Orte nie wiedersehen. Das ist alles vorbei», lag in seinen Augen und seinem Gesicht ein Blick von so leidenschaftlicher Sehnsucht, ja fast von Qual über das, was vorbei war, dass ich den Tränen nahe war.
In all seinen Gesprächen lag ein Zug von Misstrauen, manchmal sogar Hass gegenüber Frauen als einer sich vom Mann unterscheidenden Spezies, und wenn er in der Stimmung war, diesen Zug genauer zu erforschen, hörte ich unangenehm berührt und unglücklich zu, denn ich war eine Frau, und er sprach von meinem Geschlecht. Ich war sexuell naiv, unwissend und nur halb erweckt, und ich wusste nichts über Themen wie Homosexualität, aber ich fühlte mich ständig verletzt durch seine angedeutete Ablehnung des weiblichen Körpers. Mein Leben mit Frank Sargeson war für mich einsexuell abstinentes, priesterliches, nur dem Schreiben geweihtes Leben, in dem ich mich entfaltete, doch da meine Veranlagung keine vollkommen priesterliche ist, empfand ich Trauer darüber, dass ich von der Anstalt, wo man es für nötig befunden hatte, meine geistige Eigenart zu verändern, in ein neues Heim gekommen war, wo der Wunsch bestand, mein Körper solle ein anderes Geschlecht haben. Der Preis, den ich für meinen Aufenthalt in der Militärbaracke zahlte, war das Bewusstsein der Wertlosigkeit meines Körpers. Frank sprach freundlich über Männer und lesbische Frauen, und ich war weder ein Mann noch lesbisch. Er sah mich
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