Ein Engel im Winter
Windeseile an seinem inneren Auge vorüberziehen. Und er stellte fest, dass er sich noch nie so lebendig gefühlt hatte wie seit dem Augenblick, in dem er begriffen hatte, dass er bald sterben würde. Doch gleich darauf wurde ihm wieder bewusst, dass der Tod ihn erwartete.
Heute Abend war er zum ersten Mal bereit, ihn anzunehmen. Natürlich war seine Angst nicht gewichen, aber sie ging inzwischen Hand in Hand mit einer gewissen Ungeduld. Er war so neugierig auf den Tod, wie man auf die Erforschung eines neuen Kontinents neugierig sein kann. Vielleicht trat er eine Reise ins Unbekannte an, aber er war von Liebe umgeben. In Frieden mit sich selbst und in Frieden mit den anderen, wie Garrett gesagt hatte.
Sein Körper glühte, als habe er Fieber. Erneut spürte er diesen Schmerz in der Brust, den er fast vergessen hatte. Gleichzeitig begann die Bisswunde am Knöchel zu schmerzen. Er hatte das Gefühl, dass alle Knochen in seinem Körper zu brodeln anfingen und zerkrümeln würden. Allmählich fühlte er sich der Welt der Lebenden nicht mehr zugehörig, sondern in eine unbekannte Dimension versetzt.
Er hatte jetzt den Eindruck, nur zu leben, um sterben zu können.
Es war zwei Uhr morgens, als er an jenem Abend die Augen schloss. Sein letzter Gedanke galt Goodrich.
Bald wird er nicht mehr in meiner Nähe sein.
Ich werde ihn nicht wieder sehen. Ich werde ihn nicht wieder hören.
Er wird weiterhin Menschen operieren und zum Tod begleiten.
Ich werde genau wie jene, die mir vorausgegangen sind, die Antwort auf die Frage erhalten: Gibt es einen Ort, zu dem wir alle gehen?
Ungefähr hundert Kilometer von Nathan entfernt schlüpfte Jeffrey Wexler geräuschlos aus seinem Bett. Er öffnete eine kleine Tür unter der Treppe des Wohnzimmers, knipste die nackte, staubige Glühlampe an, die von der Decke baumelte, und tappte vorsichtig die Stufen hinunter in den Keller.
Er zog unter einem der Holzregale eine Kiste mit sechs Flaschen Whisky hervor, die ihm ein Lieferservice vor ein paar Tagen gebracht hatte: Es handelte sich um einen zwanzig Jahre alten Chivas, das Weihnachtsgeschenk eines Mandanten, dem er aus der Patsche geholfen hatte.
Nachdem Jeffrey sich zu Bett begeben hatte, war ihm bald klar geworden, dass er keinen Schlaf finden würde, solange sich diese Flaschen in seinem Haus befanden. Er nahm die Kiste mit hoch in die Küche und begann, eine Flasche nach der anderen in die Spüle zu gießen. Der Vorgang erforderte einige Minuten. Nachdenklich sah er zu, wie der Alkohol im Spülbecken versickerte, und stellte sich dabei vor, der Chivas sei das weißliche Spaghetti-Wasser, das man wegschüttete. Dann öffnete er rasch den Wasserhahn, um gar nicht in die Versuchung zu geraten, die letzten Tropfen aufzulecken.
Wie konnte ein Mann wie er so tief sinken? Diese Frage stellte er sich täglich und wusste doch, er würde keine Antwort darauf finden.
Inzwischen hatte er gelernt, der Versuchung zu widerstehen, zumindest heute. Doch morgen würde ein neuer Kampf beginnen. Und ebenso übermorgen. Sein Krieg erforderte eine Überwachung rund um die Uhr, denn wenn er keinen Alkohol bekam, war er fähig, alles zu schlucken, was ihm in die Hände fiel: Eau de Cologne, Deodorant, neunzigprozentigen Alkohol aus der Apotheke. Die Gefahr lauerte überall.
Er schlüpfte wieder ins Bett neben seine Frau, aber er war sehr deprimiert. Er krallte sich verzweifelt ins Kopfkissen. Vielleicht sollte er versuchen, auf Lisa zuzugehen, mit ihr zu reden und ihr seine tiefe Niedergeschlagenheit anzuvertrauen. Jetzt oder nie.
Ja, er würde ganz bestimmt morgen mit ihr reden. Das heißt, falls er den Mut dazu finden sollte.
Nach Mitternacht
Irgendwo in einem Arbeiterviertel von Brooklyn
Connie Booker öffnete die Tür und achtete darauf, kein Geräusch dabei zu machen. Sie beugte sich über Josh und betrachtete ihn voller Zärtlichkeit. Noch vor zehn Tagen war dieser Raum ein kaltes und ungemütliches Gästezimmer gewesen. Heute Abend schlief hier ein Kind in seinem warmen Bett. Sie konnte es immer noch nicht fassen.
Alles war sehr schnell gegangen. Erst diese Tragödie mit dem schrecklichen Banküberfall, bei dem ihre Nichte Candice umgekommen war. Dann ein paar Stunden später der Anruf vom Sozialamt, das ihr anbot, das Baby zu sich zu nehmen. Connie hatte spontan zugesagt. Mit beinahe fünfzig und nach mehreren Fehlgeburten hatte sie die Hoffnung auf ein Kind aufgegeben. Sie war in einem Alter, in dem sie nicht mehr viel vom Leben
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