Ein Engel im Winter
erhoffte. In den letzten Jahren hatte sie sich immer erschöpfter, immer verbrauchter gefühlt. Aber seit Josh bei ihr war, hatte sich ihr Leben verändert, als habe es plötzlich wieder Sinn bekommen.
Sie war davon überzeugt, dass sie Josh eine gute Mutter sein würde. Es sollte ihm an nichts fehlen. Sie und ihr Mann Jack arbeiteten schon hart. Er war sehr stolz auf seine neue Vaterrolle und hatte gleich Überstunden in der Kaserne beantragt.
Dennoch verunsicherte sie etwas. Heute Morgen hatte sie im Briefkasten ein in Packpapier eingewickeltes Päckchen gefunden. Es enthielt ein elektrisches Spielzeugauto und ein paar Geldscheine. Ein Brief war beigefügt, in dem stand, das Geld sei ein Weihnachtsgeschenk für den Kleinen. Unterschrieben war der Brief lediglich mit »Nathan«.
Sie und Jack hatten den Brief einige Male gelesen und wussten nicht genau, was sie davon halten sollten. Es war, ehrlich gesagt, ein eigenartiges Weihnachtsfest. Connie küsste den Jungen und verließ das Zimmer auf Zehenspitzen.
Als sie die Tür schloss, fragte sie sich noch einmal, wer wohl dieser geheimnisvolle Absender sein könnte.
Greenwich Village
Abby Coopers kehrte von ihrem Weihnachtsessen nach Hause zurück. Allein. Sie hatte höllische Kopfschmerzen und eines war sicher: Auch an diesem Abend hatte sie die Liebe ihres Lebens nicht gefunden. Vor ihrer Tür lag ein Paket. Sie öffnete es neugierig. Es enthielt eine Flasche französischen Rotwein und ein paar Zeilen. Nathan wünschte ihr ein schönes Weihnachtsfest und dankte ihr für alles, was sie für ihn getan hatte.
Abby streifte rasch ihre Schuhe ab, legte ihre Lieblings-CD ein – Songs des Jazz-Trios von Brad Mehldau – und dimmte das Licht. Sie setzte sich auf das Sofa und streckte die Beine aus.
Sie las Nathans Weihnachtskarte noch einmal. Die Worte klangen irgendwie seltsam – wie ein Abschiedsbrief, als ob sie sich nie wiedersehen würden.
Nein, das war Unsinn, sie steigerte sich da in etwas hinein. Dennoch fragte sie sich, wo Nathan wohl im Augenblick sein mochte. Intuitiv wusste sie die Antwort: bei seiner Ex-Frau.
Schade.
Er hätte ihre große Liebe sein können.
Garrett Goodrich verließ das Zentrum für Palliativmedizin auf Staten Island.
»Los, Cujo, rein mit dir«, rief er und öffnete die hintere Tür seines Wagens. Die Riesendogge gehorchte aufs Wort und sprang ins Auto.
Garrett nahm hinter dem Lenkrad Platz, ließ den Motor an und schaltete sein altes Radio ein. Er probierte alle möglichen Sender durch, zog eine Grimasse, als er Britney Spears hörte, runzelte die Stirn, als er auf einen Refrain von Eminem stieß, und fand zum Glück endlich einen Sender für klassische Musik, der eine Aufführung von Verdis Nabucco übertrug.
Ausgezeichnet, dachte er und wiegte den Kopf.
Langsam fuhr er den Weg zu seiner Wohnung, während der hebräische Sklavenchor das Va, pensiero, sull’ali dorate anstimmte. Bei der ersten roten Ampel blickte er sich nach seinem Hund um, dann musste er herzhaft gähnen. Wie lange war es her, dass er richtig ausgeschlafen hatte? Er versuchte sich zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Es war zu lange her.
Bonnie Del Amico lag in ihrem Bett und konnte nicht einschlafen.
Sie war überglücklich, dass ihre Eltern sich wieder liebten. Das hatte sie sich immer gewünscht. Seit zwei Jahren hatte sie jeden Abend darum gebetet. Doch ihre Angst war nicht ganz verschwunden, ihr war, als schwebe noch immer eine unbestimmte Drohung über ihrer Familie.
Sie sprang aus dem Bett, schnappte sich ihre peruanische Mütze, die auf einem Stuhl lag, und drückte sie wie ein Stofftier an sich, um endlich Schlaf zu finden.
Drei Uhr morgens, auf einem Friedhof in Queens. Eine dichte vereiste Schneedecke lag über Eleanor Del Amicos Grabstein. Heute Morgen hatte ihr Sohn Blumen gebracht; einen Rosenstrauß in einer Zinnvase. Wäre das Gefäß durchsichtig gewesen, hätte man etwas erkennen können, das die Blumenstiele umschloss.
Es war ein Armband mit vier Perlenreihen und einem silbernen, mit kleinen Brillanten eingefassten Verschluss.
In der kleinen Stadt Mystic in Massachusetts war es noch dunkel.
In der Nähe des Strandes befand sich in einem leeren Haus ein Zimmer mit Metallregalen. In einer großen Schachtel lag ein Album, das jemand vor kurzem aufgeschlagen hatte. Dieses Album enthielt alle möglichen Dinge: Texte, Zeichnungen, Trockenblumen, Fotos … Auf einem Foto war eine Frau abgebildet, die den Strand entlanglief.
Sie hatte
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