Ein Engel im Winter
kümmern zu dürfen.
Bonnie hatte trotz allem, was sie am Abend des Unfalls erlebt hatte, keinen Schock erlitten. Es war nicht einfach für sie gewesen, zu erleben, wie ihr Vater wie ein gewöhnlicher Verbrecher von der Polizei abgeführt wurde, doch am nächsten Morgen hatten ihre Großeltern ihr die ganze Wahrheit erzählt. Wenn sie jetzt darüber sprach, dann nur, um sich nach dem kleinen Jungen zu erkundigen, der verletzt worden war.
Die letzten Neuigkeiten über seinen Gesundheitszustand waren beruhigend: Am selben Morgen noch hatte Jeffrey angerufen und Nathan berichtet, dass Ben aus dem Koma erwacht war. Die beiden Männer spürten neben der großen Erleichterung, den Jungen außer Gefahr zu wissen, eine eher egoistische Genugtuung: Die Gefängnisstrafe, die Nathan drohte, war damit unwahrscheinlich geworden.
Bonnie und Nathan hatten drei wunderbare Ferientage miteinander verbracht, in denen sie nichts anderes getan hatten, als sich zu amüsieren. Nathan hatte nicht versucht, seiner Tochter eine besondere Botschaft zu übermitteln. Er wollte seine Zeit nicht damit vergeuden, den Philosophen zu spielen, sondern lediglich kostbare Augenblicke mit ihr verbringen, an die sie sich später erinnern würde. Im Museum of Modern Art hatte er ihr das alte Ägypten gezeigt und sie auf Picassos Gemälde aufmerksam gemacht. Am Tag zuvor hatten sie den Gorilla im großen Zoo in der Bronx besucht und morgens die Gärten des Fort Tyron Park, in denen Rockefeller einige Klöster Südfrankreichs Stein für Stein hatte nachbauen lassen.
Nathan warf einen Blick auf seine Uhr. Er hatte ihr eine Fahrt auf dem Karussell versprochen, aber sie mussten sich beeilen: Es war bereits spät und die berühmte Attraktion lief nur bis sechzehn Uhr dreißig. Sie rannten zum Karussell. Hier herrschte eine richtige Volksfestatmosphäre. Bonnie amüsierte sich königlich.
»Steigst du neben mir ein?«, fragte sie außer Atem.
»Nein, Baby, das ist nichts für Erwachsene.«
»Es sind aber viele Erwachsene hier«, erwiderte sie und deutete auf die Holzpferde.
»Los, beeil dich«, forderte er sie auf.
»Bitte!« Sie gab nicht auf.
Heute brachte er es nicht übers Herz, ihr etwas abzuschlagen. Also setzte er sich auf eines der prächtig bemalten Holzpferde neben seiner Tochter.
»Es geht los!«, rief das kleine Mädchen, als das Karussell sich zu drehen begann und die mitreißende Musik erklang.
Anschließend warfen sie den Enten, die sich im Wasser des Teichs aufplusterten, ein paar Brotstücke zu und erreichten schließlich die Eisbahn am Wollman Memorial Rink.
Zu dieser Jahreszeit war sie eine der größten Freiluft-Attraktionen in Manhattan. Die Piste war von Bäumen gesäumt, über denen die Wolkenkratzer von Midtown in den Himmel ragten. Hinter der Absperrung beobachtete Bonnie mit Vergnügen, wie die anderen Kinder Freudenschreie ausstießen, wenn sie ihre Figuren drehten.
»Willst du es probieren?«
»Darf ich?«, fragte das kleine Mädchen. Sie glaubte, sich verhört zu haben.
»Nur, wenn du dich dazu in der Lage fühlst.« Noch vor sechs Monaten hätte sie Nein gesagt, ich habe Angst oder ich bin noch zu klein, aber seit einiger Zeit hatte sie Selbstvertrauen gewonnen.
»Glaubst du, ich kann das?«
»Natürlich«, erwiderte Nathan und sah sie fest an. »Du bist doch super mit den Rollerblades. Und Schlittschuhfahren funktioniert ganz genauso.«
»Also will ich mal mein Glück versuchen.«
Er zahlte sieben Dollar für den Eintritt und die Leihgebühr für die Schlittschuhe. Dann half er ihr, sie anzuziehen und sich auf die Eisfläche zu stellen.
Anfangs war sie unsicher, was rasch zu ihrem ersten Sturz führte. Sie erhob sich aber gleich wieder und suchte Nathans Blick. Vom Rand der Eisfläche aus ermutigte er sie, durchzuhalten. Sie versuchte es erneut, wurde etwas sicherer und konnte sich ein paar Meter auf dem Eis halten. Als sie an Fahrt gewann, stieß sie mit einem Jungen ihres Alters zusammen. Statt in Tränen auszubrechen, fing sie an zu lachen.
»So musst du es machen!«, rief Nathan ihr von fern zu und deutete mit beiden Händen an, wie sie die Schlittschuhe stellen sollte, um anzuhalten. Sie hob den Daumen in seine Richtung. Sie war in einem Alter, in dem man schnell lernt.
Beruhigt lief er zu dem kleinen Getränkestand und bestellte sich einen Kaffee, ohne Bonnie für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Die Winterkälte hatte ihre Wangen gerötet, und sie glitt jetzt viel sicherer zum Rhythmus der Rock
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