Ein Engel im Winter
die Straße und blickte zu den beiden Türmen des San Remo Buildings hoch. Er entdeckte das Fenster seines Apartments im 23. Stock im Nordturm. Wie immer hatte er denselben Gedanken: gar nicht so übel.
Hier zu landen war gar nicht so übel für einen Jungen, der in einem ärmlichen Viertel südlich von Queens aufgewachsen war.
Er hatte wirklich eine schwere Kindheit, eine Kindheit, die durch Armut und Entbehrungen geprägt war, ein karges, aber kein elendes Leben, auch wenn seine Mutter und er sich manchmal nur dank den food stamps , den Lebensmittelmarken für Bedürftige, über Wasser halten konnten. Ja, gar nicht so übel.
Denn die 145 Central Park West war unbestritten eine der besten Adressen des Village. Das Gebäude lag dem Park gegenüber, zwei Blocks von der U-Bahn entfernt, mit der die Menschen hier jedoch eher selten fuhren. In den 136 Apartments des Gebäudes wohnten Geschäftsleute, die Großen der Finanzwelt, alte New Yorker Familien, Filmstars und Sänger. Rita Hayworth hatte bis zu ihrem Tod hier gelebt. Man munkelte, Dustin Hoffman und Paul Simon besäßen hier ein Apartment.
Er betrachtete immer noch die beiden Türme an der Spitze des Gebäudes, jeder von einem kleinen römischen Tempel überragt, wodurch das Bauwerk an eine mittelalterliche Kathedrale erinnerte.
Gar nicht so übel.
Dennoch musste er zugeben, dass er sich dieses Apartment nie hätte leisten können, selbst als noch so angesehener Anwalt, wenn da nicht die Geschichte mit seinem Schwiegervater gewesen wäre – besser gesagt seinem Ex-Schwiegervater Jeffrey Wexler.
Lange Zeit diente das San-Remo-Apartment Wexler als Zweitwohnung, wenn seine Geschäfte ihn nach New York führten. Er war ein sehr korrekter, gradliniger Mann, ein würdiger Vertreter der Bostoner Elite. Die Wohnung gehörte seit jeher der Familie Wexler, das heißt seit der Wirtschaftskrise von 1930, in der Emery Roth das Gebäude baute, dieser geniale Architekt, der bereits mehrere andere berühmte Häuser um den Central Park herum entworfen hatte.
Als Haushälterin für das Apartment hatte Wexler eine Frau italienischen Ursprungs engagiert: Sie hieß Eleanor Del Amico und lebte mit ihrem Sohn in Queens. Wexler hatte sie gegen den Willen seiner Ehefrau eingestellt, die es anfangs unpassend fand, eine allein stehende Mutter zu beschäftigen. Da Eleanor jedoch zu ihrer Zufriedenheit arbeitete, übertrugen die Wexlers ihr ebenfalls die Sorge um ihr Ferienhaus in Nantucket.
So hatte Nathan mehrere Sommer hintereinander seine Mutter auf die Insel begleitet. Und hier fand jene Begegnung statt, die sein Leben verändern sollte: Er lernte Mallory kennen.
Die Arbeit seiner Mutter hatte ihm einen Platz in der ersten Reihe verschafft, wo er voller Neid dieses Amerika der White Anglo Saxon Protestants beobachten konnte, an dem die Zeit spurlos vorüberzugehen schien. Gern hätte auch er als Kind Klavierstunden genommen, im Hafen von Boston Segeln gelernt und wäre in einem Mercedes zur Schule gefahren worden. Natürlich hatte er nie etwas von alledem besessen: Er hatte keinen Vater, keinen Bruder, kein Geld. Am Revers seiner Schuluniform prangte kein Abzeichen einer Privatschule, er trug keinen handgestrickten Marinepullover einer begehrten Designermarke.
Aber dank Mallory konnte er gierig ein paar Brosamen dieser zeitlosen Lebensart genießen. Manchmal war er zu üppigen Picknicks auf schattigen Plätzen in Nantucket eingeladen. Öfters hatte er Wexler zum Fischen begleitet, was jedes Mal bei einem Eiskaffee und einem frischen Brownie endete. Und sogar die sehr distinguierte Elizabeth Wexler ließ ihn gelegentlich Bücher aus der Bibliothek dieses großen Hauses ausleihen, in dem alles glatt, rein und heiter war.
Dennoch, trotz dieses offensichtlichen Wohlwollens, waren die Wexlers peinlich berührt, dass ausgerechnet der Sohn der Haushälterin ihre Tochter an einem Tag im September 1972 vor dem Ertrinken rettete.
Über diese Peinlichkeit waren die Wexlers nie hinweggekommen. Ganz im Gegenteil, sie wurde im Laufe der Zeit sogar stärker, bis sie sich in offene Feindschaft verwandelte, als Mallory und er ihre Absicht erklärten, zusammenzubleiben und zu heiraten.
Die Wexlers hatten alles darangesetzt, ihre Tochter von dem Mann zu trennen, den sie zu lieben behauptete. Doch nichts hatte genutzt: Mallory hielt zu ihm. Sie war stärker als die vermeintlichen Appelle an ihre Vernunft, stärker als die Drohungen und die Familienessen, bei denen fortan mehr
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