Ein Engel im Winter
ordentlich aufzuziehen. Obwohl sie über wenig Schulbildung und Lebensart verfügte, bemühte sie sich nach Kräften, seinen schulischen Werdegang zu fördern und ihm so gut wie möglich zu helfen. Sie besaß kein Diplom, aber sie liebte ihren Sohn. Bedingungslos und hingebungsvoll. Häufig erklärte sie ihm, wie beruhigt sie sei, einen Sohn und keine Tochter zu haben: »Du wirst dich in dieser immer noch von Männern beherrschten Welt besser zurechtfinden«, versicherte sie ihm.
In den ersten zehn Jahren seines Lebens war seine Mutter die Sonne gewesen, die seinen Alltag erhellte, die Zauberin, die ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn legte, um seine Albträume zu verscheuchen, die ihm morgens, bevor sie zur Arbeit aufbrach, freundliche Worte schenkte und manchmal ein paar Münzen, die er neben seiner Kakaotasse fand, wenn er aufstand.
Ja, seine Mutter war seine Göttin gewesen, bis eine Art gesellschaftliche Kluft sie allmählich voneinander entfernte.
Erst hatte er die faszinierende Welt der Wexlers entdeckt, dann, mit zwölf, hatte er das Glück, auf die Wallace School zu kommen, eine Privatschule in Manhattan, die jedes Jahr etwa zehn Stipendien an hochbegabte Schüler aus den ärmeren Vierteln vergab. Mehrere Male war er von Schulkameraden eingeladen worden, die in eleganten Häusern an der East Side oder im Gramercy Park wohnten. Damals begann er sich für seine Mutter zu schämen. Er genierte sich wegen ihrer Grammatikfehler und ihres schlechten Englisch. Er schämte sich für ihre gesellschaftliche Stellung, die an ihrer Sprache und ihren Manieren erkennbar war.
Zum ersten Mal empfand er ihre Liebe als erdrückend, und allmählich löste er sich von seiner Mutter.
Während seiner Universitätsjahre hatten sie sich noch weiter voneinander entfernt, und seine Heirat hatte nichts daran geändert. Aber es war nicht Mallorys Schuld, denn sie bestand immer darauf, dass er sich um seine Mutter kümmerte. Nein, es war allein seine Schuld. Er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Leiter des Erfolgs hinaufzusteigen, um zu merken, dass seine Mutter seine Liebe brauchte und nicht sein Geld.
Und dann kam jener düstere Novembertag im Jahre 1991, an dem die Klinik ihn anrief, um ihm den Tod seiner Mutter mitzuteilen. In diesem Augenblick erst merkte er, wie sehr er sie liebte. Wie viele Söhne vor ihm plagten ihn Gewissensbisse, und er schämte sich für die Augenblicke, in denen er sich undankbar und gleichgültig benommen hatte.
Seither dachte er täglich an sie. Jedes Mal, wenn er auf der Straße eine einfach gekleidete, abgearbeitete Frau sah, die bereits erschöpft war, bevor der Tag auch nur begonnen hatte, sah er seine Mutter vor sich und bedauerte, dass er kein besserer Sohn gewesen war. Aber es war zu spät. Alle Vorwürfe, die er sich machte, waren sinnlos. Auch wenn er jede Woche Blumen auf ihr Grab legte, wie um sich zu entschuldigen, konnte er nie und nimmer die Zeit zurückholen, die er nicht mit ihr verbracht hatte, als sie noch am Leben war.
In der Schublade des Nachtschranks neben ihrem Krankenbett hatte er zwei Fotos gefunden.
Das erste stammte aus dem Jahre 1967. Es war an einem Sonntagnachmittag im Vergnügungspark von Coney Island am Meer aufgenommen worden. Nathan war drei Jahre alt. In seinen kleinen Händen hält er ein italienisches Eis und betrachtet voller Staunen die Achterbahn. Seine Mutter trägt ihn stolz auf den Armen. Es ist eines der wenigen Fotos, auf dem sie lächelt.
Das andere Foto ist ihm vertrauter, denn es zeigt ihn, als er an der Columbia University sein Abschlussdiplom für Jura überreicht bekommt. In seiner Robe und seinem eleganten Anzug scheint er die Welt herauszufordern. Die Zukunft gehört ihm, so viel steht fest.
Bevor seine Mutter ins Krankenhaus musste, hatte sie dieses Foto aus dem Goldrahmen in ihrem Wohnzimmer genommen. Im Augenblick des Todes wollte sie das Symbol bei sich haben, das für den Erfolg ihres Sohnes ebenso stand wie für seine Entfremdung von ihr.
Nathan versuchte diese Gedanken zu verscheuchen, die ihn verletzbar machten.
Es war jetzt kurz nach sechs.
Er betrat das unterirdische Parkhaus im Nachbargebäude, in dem er zwei Stellplätze gemietet hatte. Auf einem stand ein Jaguar Coupé, auf dem anderen ein luxuriöser Jeep in Dunkelblau.
Sie hatten ihn angeschafft, als sie beschlossen hatten, ein zweites Kind zu bekommen. Mallory hatte ihn ausgesucht. Sie liebte das Gefühl von Sicherheit und Höhe, das diese Fahrzeuge
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