Ein Engel im Winter
Morgengrauen Laternen anzünden?
Nietzsche
»Wie viele Tage Urlaub habe ich in den letzten drei Jahren gemacht?«
Es war sechs Uhr abends. Im Büro von Ashley Jordan versuchte Nathan den Hauptgesellschafter zu überreden, ihm zwei Wochen Urlaub zu geben. Ihre Beziehung war komplex. Nathan war zu Beginn Jordans Protege in der Kanzlei gewesen, aber im Laufe der Jahre hatte sich Jordan immer wieder über den Ehrgeiz seines jungen Kollegen geärgert und ihm sogar vorgeworfen, er sei allzu oft nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Nathan seinerseits hatte schnell erkannt, dass Jordan nicht der Typ war, der Geschäft und Freundschaft miteinander verknüpfte. Er wusste ganz genau: Sollte er eines Tages ernsthaft in Schwierigkeiten geraten, würde er ganz bestimmt nicht Jordan um Hilfe bitten.
Nathan seufzte. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen: Seine Auseinandersetzung mit Garrett und Kevins Selbstmord hatten ihn zutiefst erschüttert. Mal abgesehen von diesem ständigen stechenden Schmerz in der Brust.
Genau genommen wusste er nicht mehr, was er von Goodrichs Fantastereien über geheimnisvolle Boten halten sollte. Aber eines war sicher: Er musste unbedingt Pause machen, Zeit für sich haben und die kommenden Ferien nutzen, um sich mehr seiner Tochter zu widmen.
Er stellte seine Frage erneut:
»Wie viele Tage Urlaub habe ich in den letzten drei Jahren gemacht?«
»Eigentlich keinen«, räumte Jordan ein.
»Wir vermeiden Prozesse tunlichst, aber wenn wir nicht anders konnten, wie viele habe ich verloren?«
Jordan seufzte und musste unwillkürlich grinsen. Er kannte die alte Leier. Nathan war ein begabter Anwalt, aber er war nicht gerade bescheiden.
»Du hast in den letzten Jahren keinen einzigen Fall verloren.«
»Ich habe in meiner ganzen Karriere keinen einzigen Fall verloren«, berichtigte Nathan ihn.
Jordan nickte zustimmend, dann fragte er:
»Geht es um Mallory? Ist es ihretwegen?«
Nathan erwiderte beiläufig:
»Hör zu, ich nehme meinen Laptop und mein Handy mit, damit ich jederzeit erreichbar bin, wenn es ein Problem gibt.«
»Okay, wenn du das willst, dann nimm eben Urlaub. Dafür brauchst du meine Einwilligung nicht. Ich werde den Fall Rightby’s persönlich übernehmen.«
Da er das Gespräch für beendet hielt, vertiefte sich Jordan wieder in die Zahlen, die auf seinem Bildschirm flimmerten.
Aber Nathan ließ sich nicht so einfach abspeisen. Er hob die Stimme ein wenig, als er sagte:
»Ich brauche ein bisschen Zeit, um mich meiner Tochter zu widmen, und ich weiß nicht, inwiefern dies ein Problem aufwirft.«
»Das tut es doch gar nicht«, erwiderte Jordan und sah auf. »Das einzig Ärgerliche ist, dass es nicht vorgesehen war, und du weißt sehr wohl, dass man in unserem Beruf alles vorhersehen muss.«
11. Dezember
Der Wecker klingelte um fünf Uhr dreißig.
Trotz einiger Stunden Schlaf war der Schmerz nicht verschwunden. Im Gegenteil, er war stechender geworden und brannte wie ein Feuer, das man hinter seinem Brustbein entfacht hatte. Nathan hatte sogar das Gefühl, der Schmerz habe seine linke Schulter erfasst und breite sich in seinem ganzen Arm aus.
Daher traute er sich nicht, sofort aus dem Bett zu springen. Er blieb liegen, atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Nach einer Weile schwand der Schmerz allmählich, aber Nathan blieb trotzdem noch zehn Minuten liegen und überlegte, was er mit dem Tag anfangen sollte. Schließlich traf er eine Entscheidung.
Verdammt noch mal! Ich werde die Dinge nicht einfach tatenlos hinnehmen. Ich muss es wissen.
Er stand auf und ging rasch unter die Dusche. Er wollte gern Kaffee trinken, widerstand aber der Versuchung: Bei einer Blutabnahme sollte man nüchtern sein.
Er zog sich warm an, fuhr mit dem Aufzug hinunter und durchquerte eilig die im Jugendstil verzierte Lobby und die Eingangshalle des Gebäudes.
Er blieb kurz stehen, um den Portier zu grüßen, dessen Liebenswürdigkeit er sehr schätzte.
»Guten Morgen, Sir.«
»Guten Morgen, Peter, wie haben die Knicks gestern gespielt?«
»Sie haben mit zwanzig Punkten Vorsprung gegen Seattle gewonnen. Ward hat ein paar schöne Körbe gemacht…«
»Na prima, hoffentlich läuft es in Miami genauso gut!«
»Joggen Sie heute Morgen nicht, Sir?«
»Nein, im Augenblick ist die Maschine ein wenig eingerostet.«
»Dann erholen Sie sich schnell wieder …«
»Danke, Peter, und einen schönen Tag noch.«
Draußen war es dunkel, und der Morgen war eiskalt.
Er überquerte
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