Ein Engel im Winter
noch nicht dreimal pro Nacht aufstehen und pinkeln. Nein, er hatte kein Brennen beim Wasserlassen. Im Übrigen war er ja wohl ein bisschen zu jung für ein Prostata-Adenom, oder nicht?
Am Ende folgte noch eine Ultraschalluntersuchung. Mit einer Sonde fuhr man über verschiedene Teile seines Körpers, und er konnte auf einem kleinen Monitor schöne Bilder seiner Leber, seiner Bauchspeicheldrüse, seiner Milz und seiner Gallenblase sehen.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: zwei Uhr nachmittags. Der Check-up war überstanden. Uff. Ihm war schwindlig, er hatte das Bedürfnis, sich zu übergeben. In den letzten Stunden hatte er mehr Untersuchungen über sich ergehen lassen als in seinem ganzen Leben.
»In etwa vierzehn Tagen erhalten Sie die Ergebnisse«, hörte er eine Stimme hinter sich sagen.
Er wandte sich um und stand Dr. Bowly gegenüber, der ihn ernst betrachtete.
»Was heißt ›in etwa vierzehn Tagen‹«, knurrte er. »Ich habe keine Zeit ›etwa vierzehn Tage‹ zu warten. Ich bin erschöpft, ich bin krank! Ich muss wissen, was mir fehlt!«
»Beruhigen Sie sich doch«, sagte der Arzt, »ich habe nur einen Scherz gemacht: In etwa einer Stunde können wir eine erste Bilanz ziehen.«
Er schaute den Anwalt aufmerksam an und meinte:
»Das ist wahr, Sie sehen sehr erschöpft aus. Wenn Sie sich hinlegen wollen, bis die Ergebnisse da sind, im zweiten Stock gibt es ein freies Zimmer. Soll ich eine Schwester bitten, Ihnen etwas zu essen zu bringen?«
Nathan bedankte sich. Er sammelte seine Kleidungsstücke ein, ging in den zweiten Stock, kleidete sich in dem besagten Zimmer an, bevor er sich auf der Liege ausstreckte.
Als Erstes sah er Mallorys Lächeln.
Mallory war Licht, Mallory war Sonne. Immer voller Energie und Heiterkeit. Sehr gesellig, während Nathan damit eher ein Problem hatte. Irgendwann ließen sie ihre Wohnung neu streichen, und er hatte tagelang kein einziges Wort mit dem Maler gewechselt. Mallory dagegen wusste in weniger als einer Stunde über alle wesentlichen Etappen seines Malerlebens Bescheid: alles, von der Stadt, in der er geboren wurde, bis zu den Vornamen seiner Kinder. Nicht dass Nathan die Menschen verachtete, im Gegenteil, er wusste nur meist nicht, worüber er mit ihnen reden sollte. Er war eben kein »Spaßvogel«. Mallory war von Natur aus ein positiver Mensch, der anderen Vertrauen einflößte. Er selbst war keineswegs positiv. Im Gegensatz zu seiner Frau machte er sich keine Illusionen über das Wesen des Menschen.
Obwohl sie so verschieden waren, hatten sie Jahre des größten Glücks erlebt. Sie hatten es beide verstanden, Kompromisse zu schließen. Natürlich widmete Nathan einen Großteil seiner Zeit der Arbeit, doch Mallory akzeptierte es. Sie verstand sein Bedürfnis nach gesellschaftlichem Aufstieg.
Im Gegenzug übte Nathan niemals Kritik an den militanten Aktivitäten seiner Frau, auch wenn er sie manchmal recht naiv oder überdreht fand. Bonnies Geburt hatte ihren Zusammenhalt noch mehr gefestigt.
Im Grunde seines Herzens hatte er immer geglaubt, dass seine Ehe ewig halten würde. Und doch hatten sie sich auseinander gelebt.
Zum großen Teil war seine Arbeit schuld, weil ihm immer neue Verantwortung übertragen wurde. Er wusste sehr genau, dass das Scheitern seiner Ehe auf seine häufige Abwesenheit zurückzuführen war.
Doch vor allem war da noch der Tod von Sean, ihrem zweiten Kind. Der Junge war im Alter von drei Monaten gestorben.
Es war vor drei Jahren, im Winter, Anfang Februar. Aus unerfindlichen Gründen weigerte sich Mallory, jemanden zu engagieren, der sich um die Kinder kümmerte. Dabei wäre es so einfach gewesen, eine der philippinischen Tagesmütter für Bonnie und Sean einzustellen, von denen es in Amerika nur so wimmelte. Alle seine Kollegen taten das. Aber Mallory hatte erklärt, dass diese Frauen gezwungen waren, ihr Land und ihre eigenen Kinder zu verlassen, um die Nachkommen reicher Amerikaner aufzuziehen. Wenn die Emanzipation der Frau im Norden nur durch die Versklavung der Frau im Süden möglich war, wollte sie, Mallory Wexler, gern darauf verzichten. Eltern sind verpflichtet, sich um ihre Kinder zu kümmern, niemand sonst. Die Väter müssten sich nur mehr an der Erziehung beteiligen, das war alles. Wenn man zu protestieren wagte oder gar aufzuzeigen versuchte, dass die philippinische Tagesmutter für ihre Dienste eine beträchtliche Summe erhielt, die sie in ihre Heimat schicken konnte, um das Studium ihrer Kinder zu
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