Ein Engel im Winter
vermitteln. Sie achtete immer darauf, dass ihre Familie geschützt war. Bei allen Entscheidungen, die sie traf, hatte dieser Punkt absoluten Vorrang.
Wozu jetzt noch zwei Autos?, fragte sich Nathan und öffnete die Tür des Coupés. Seit einem Jahr spielte er mit dem Gedanken, den Jeep zu verkaufen, aber er hatte nie die Zeit dafür gefunden. Er ließ den Motor an, doch dann dachte er, dass es vielleicht sinnvoller sein könnte, den Jeep zu nehmen, weil die Straßen glatt sein könnten.
Im Innern des Wagens roch es nach Mallorys Parfüm. Als er den Motor des Jeeps startete, beschloss er, den Sportwagen zu verkaufen und den Allrad zu behalten.
Er fuhr die zwei Ebenen des Parkhauses hoch, schob die Magnetkarte in den Schlitz, um die Schranke zu öffnen, und verschwand in der noch dunklen Stadt.
Es schneite nicht mehr. Das Wetter war entschieden zu unbeständig, es schwankte dauernd zwischen Kälte und Milde.
Er öffnete das Handschuhfach und fand eine alte CD von Leonard Cohen. Eine Lieblings-CD seiner Ex-Frau. Er schob sie in den CD-Player. Mallory liebte Folksongs im Besonderen und den Protest im Allgemeinen. Vor einigen Jahren war sie nach Europa gereist, nach Genf, um gegen die Folgen der Globalisierung und die Allmacht der multinationalen Konzerne zu demonstrieren. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen hatte sie sich aktiv an der Kampagne für Ralph Nader beteiligt, und als sie an der Ostküste lebte, hatte sie keine Demonstration gegen den IWF und die Weltbank in Washington versäumt. Mallory war gegen alles: gegen die Schulden und das Elend in den Entwicklungsländern, gegen die Zerstörung der Umwelt, gegen die Kinderarbeit … In den letzten Jahren hatte sie vehement gegen die Gefahr gekämpft, die von genetisch manipulierten Lebensmitteln ausging. Sie hatte viel Zeit für eine militante Organisation geopfert, die für eine Landwirtschaft ohne Düngemittel und Pestizide focht. Zwei Jahre vor ihrer Trennung hatte er sie ein paar Tage nach Indien begleitet, wo die Organisation ein ehrgeiziges Programm der Verteilung gesunden Saatguts an die Bauern plante, um sie zu ermuntern, ihre traditionelle Landwirtschaft zu erhalten.
Nathan hatte die Großzügigkeit der Reichen immer sehr kritisch betrachtet, aber im Laufe der Zeit hatte er anerkennen müssen, dass diese besser als nichts war – zumindest im Vergleich zu ihm, der gar nichts tat.
Auch wenn er sich manchmal über die engagierte Haltung seiner Frau lustig machte, insgeheim bewunderte er sie, denn er wusste wohl, dass die Welt lange auf Besserung der Verhältnisse warten konnte, wenn sie auf Typen wie ihn angewiesen blieb.
Um diese Zeit war der Verkehr noch flüssig. In einer halben Stunde würde das nicht mehr der Fall sein. Er fuhr Richtung Lower Manhattan, dachte an nichts und ließ sich von Cohens rauchiger Stimme einlullen.
Als er sich dem Foley Square näherte, warf er einen Blick in den Rückspiegel. Auf einem der Rücksitze lag ein Plaid mit einem Motiv von Norman Rockwell, das sie zu Beginn ihrer Ehe bei Bloomingdale’s gekauft hatten und in das sich Bonnie gern gekuschelt hatte, wenn sie zu dritt unterwegs gewesen waren.
Nein, er träumte nicht: Mallorys Parfum schwebte noch immer im Auto. Ein Duft nach Vanille und frischen Schnittblumen. In solchen Augenblicken fehlte sie ihm besonders schmerzlich. Sie war ihm so gegenwärtig, dass er ein paarmal den Eindruck hatte, neben einem Schatten zu sitzen. Sie war da, saß auf dem Beifahrersitz wie ein Gespenst.
Alles wäre sicher anders gekommen, wenn nicht so vieles zwischen ihnen gestanden hätte: das Geld, die unterschiedliche soziale Herkunft, sein Bedürfnis, sich selbst zu übertreffen, um zu zeigen, dass er Mallory verdiente. Schon früh sah er sich gezwungen, sich ein Image zuzulegen, das auf Zynismus und Individualismus gründete, und alles, was er an Empfindsamkeit besaß, zu verdrängen. Um einer der Besten zu sein, um sich nicht für seine Schwächen schämen zu müssen.
Während ihm all das durch den Kopf ging, bekam er plötzlich Angst, Mallory nie wiederzusehen. Außer seiner Tochter hatte er keine nahen Verwandten, auch keinen echten Freund. Wer würde um ihn trauern, wenn er sterben musste? Jordan? Abby?
Er erreichte die Lafayette Street, und jäh erfasste ihn eine Woge der Traurigkeit.
Als er auf die Brooklyn Bridge fuhr, hatte er das Gefühl, zwischen den Stahlpfeilern eingepfercht zu werden, die die Brücke stützten. Die beiden Bögen, die ihn immer an den
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