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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Musso
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wusste, dass er es nicht getan hatte, aber er konnte sich eben nicht genau an den Moment erinnern, in dem er seinen Sohn schlafen gelegt hatte. Und diese Ungewissheit quälte ihn und verstärkte sein Schuldgefühl.
    Dann hatte sich Mallory in eine Wahnvorstellung hineingesteigert und gab sich selbst die Schuld. Sie behauptete, das sei die Strafe dafür, dass sie ihr zweites Kind nicht gestillt habe. Als ob das etwas geändert hätte!
    Warum war ihre Ehe nach dieser Prüfung gescheitert, statt sich zu festigen? Er war unfähig, diese Frage, die er sich Tag für Tag stellte, eindeutig zu beantworten. Dieses Bedürfnis nach Abstand zu erklären, das sie beide spürten.
    So war es passiert. Und zwar ziemlich schnell. Plötzlich konnte er ihre Anwesenheit nicht mehr ertragen, ihren Blick, der ihn, wenn auch unbewusst, vielleicht doch anklagte, am Tod ihres Sohnes schuld zu sein. Worüber sollte er mit ihr reden, wenn er nach Hause kam? Über die Vergangenheit? »Erinnerst du dich, wie schön er war? Erinnerst du dich, wie wir auf ihn gewartet haben, wie stolz wir auf ihn waren? Erinnerst du dich an den Ort, an dem er gezeugt wurde? In einem Chalet in diesem Skiurlaub in den White Mountains. Erinnerst du dich …«
    Er wusste nicht mehr, was er antworten sollte auf solche Fragen wie: »Glaubst du, dass er im Himmel ist? Glaubst du, dass es ein Leben nach dem Tod gibt?«
    Er wusste es nicht. Er glaubte an nichts.
    Ihm blieb nur diese offene Wunde, dieser nie enden wollende Kummer, dieses grausame Gefühl, sein Kind im Stich gelassen zu haben.
    Er war so hilflos gewesen, so am Boden zerstört. Für lange Zeit war seine Niedergeschlagenheit so intensiv gewesen, dass er zu nichts Lust hatte, weil nichts auf der Welt seinen Jungen wieder zum Leben erwecken konnte.
    Um weiterleben zu können, hatte er sich in die Arbeit gestürzt. Doch im Büro und überall sonst stellte man ihm immer die gleiche Frage: Wie geht es deiner Frau?
    Es ging immer nur um seine Frau.
    Und er? Was war mit seinem Schmerz? Wer kümmerte sich darum? Niemals hatte ihn jemand gefragt, wie es ihm ging. Wie er das alles ertrug. Man hielt ihn für stark. A tough man. Das war er doch in seinem Beruf, oder nicht? Er war gnadenlos, ein Raubtier, unerbittlich, jemand, der kein Recht auf Tränen oder gar Verzweiflung hatte.
    Nathan öffnete die Augen und setzte sich auf.
    Er wusste, diese Wunde würde nie ganz verheilen. Natürlich gab es Tage, an denen er schöne Stunden mit seiner Tochter erlebte, gern Sport trieb oder über den Witz eines Mitarbeiters grinste. Aber selbst in solchen Augenblicken musste er voller Schmerz an Sean denken.
    Eine Stunde später
    Nathan saß Dr.   Bowly in einem Sessel gegenüber und betrachtete einen goldenen Rahmen, der eine Art Pergament mit der lateinischen Übersetzung eines Ausspruchs von Hippokrates enthielt:
    Vita brevis, ars longa, experimentum periculosum, judicium difficile.
    »Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, die Untersuchung gefährlich, das Urteil schwierig«, übersetzte der Arzt. »Das bedeutet, dass …«
    »Ich verstehe sehr wohl, was das bedeutet«, unterbrach Nathan ihn. »Ich bin Jurist und keiner dieser Popstars, die zum Entzug hierherkommen.«
    »Ist ja gut«, bemerkte der Arzt besänftigend.
    Er reichte ihm ein kleines Dokument von etwa dreißig Seiten, auf dem stand: MEDIZINISCHES GUTACHTEN
    Nathan blätterte es durch, ohne wirklich darin zu lesen, blickte Bowly an und sagte leichthin:
    »Und?«
    Der Arzt räusperte sich ein paarmal, um die Spannung zu steigern.
    Dieser Typ ist ein richtiger Sadist.
    Er räusperte sich erneut und schluckte.
    Nun fang schon an. Sag mir, dass ich verrecken werde!
    »Mein Gott, Sie werden nicht gleich morgen früh sterben. Ihre Werte sind nicht beunruhigend.«
    »Sind Sie . sicher? Aber mein Herz …«
    »Sie leiden nicht unter Bluthochdruck.«
    »Und mein Cholesterinspiegel?«
    Bowly schüttelte den Kopf.
    »Nichts Ernstes: Die Cholesterinwerte sind nicht alarmierend.«
    »Und dieser Schmerz in der Brust?«
    »Nichts Beunruhigendes. Der Kardiologe würde im schlimmsten Fall auf eine verkappte, durch starken Stress hervorgerufene Angina Pectoris tippen.«
    »Also kein Infarktrisiko?«
    »Das ist sehr unwahrscheinlich. Ich gebe Ihnen aber für alle Fälle ein Spray auf Trinitin-Basis mit. Aber wenn Sie ein wenig ausspannen, wird der Schmerz von allein nachlassen.«
    Nathan griff nach dem Medikament, das Bowly ihm reichte. Fast hätte er ihn umarmt. Er fühlte sich von

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