Ein Engel im Winter
geheimnisvollen Eingang in ein gotisches Gebäude erinnerten, bildeten einen scharfen Kontrast zur modernen Skyline der Wolkenkratzer, die für immer verunstaltet war, seit die Zwillingstürme fehlten. So unsinnig es auch war, jedes Mal, wenn er an nebelverhangenen Tagen hier vorbeifuhr, rechnete er damit, sie an einer Biegung vor sich auftauchen zu sehen, mit ihren glänzenden Fassaden und ihren Spitzen, die den Himmel berührten.
Ein paar Krankenwagen überholten ihn mit Blaulicht. Sie fuhren Richtung Brooklyn. Vermutlich war irgendwo in der klirrend kalten Nacht ein schwerer Unfall passiert. Lieber Himmel, so war New York! Er liebte und hasste diese Stadt gleichermaßen. Das war schwer zu erklären.
Da er sich zu wenig aufs Fahren konzentrierte, verpasste er am Ende der Brücke eine Ausfahrt und fand sich in den engen Straßen von Brooklyn Heights wieder. Er fuhr eine Weile durch dieses stille Viertel, bevor er einen Zugang zur Fulton Street fand. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer, die er auswendig wusste. Eine bereits sehr wache Stimme war am Apparat: »Hier Dr. Bowly, was kann ich für Sie tun?«
Dr. Bowlys Klinik war berühmt für die erstklassige Versorgung ihrer Patienten. Jeder neue Mitarbeiter der Kanzlei wurde vor der Festanstellung zum Gesundheitstest hierher geschickt. Seit einiger Zeit hatte die Klinik ihr Programm erweitert und ein Entzugszentrum für die besonders erlesene Kundschaft von der Ostküste eingerichtet.
»Nathan Del Amico aus der Kanzlei Marble & March. Ich will einen gründlichen Check-up machen lassen.«
»Ich verbinde Sie mit der Aufnahme«, erwiderte der andere, ziemlich erbost, so früh am Morgen wegen eines banalen Termins persönlich belästigt zu werden.
»Nein, Doktor, ich möchte mit Ihnen reden.«
Der Arzt war überrascht, blieb aber höflich.
»Nun gut … Ich höre.«
»Ich will das komplette Programm«, erklärte Nathan. »Blutanalyse, Röntgenuntersuchungen, EKG …«
»Ich versichere Ihnen, unser Check-up umfasst alle Untersuchungen.«
Nathan hörte, wie der Arzt am anderen Ende der Leitung auf der Tastatur eines Computers tippte.
»Wir können Ihnen einen Termin in . sagen wir zehn Tagen geben«, schlug Bowly vor.
»Besser in zehn Minuten«, erwiderte Nathan schlagfertig.
»Sie . Sie scherzen wohl?«
Nathan gelangte in den Distrikt Park Slope, fuhr um eine Kurve und steuerte ein elegantes Wohnviertel im Westen des Prospect Park an. In betont professionellem Ton sagte er:
»Unsere Kanzlei hat Sie in einer Steuersache vertreten. Wenn ich mich recht erinnere, war das vor drei Jahren .«
»Ja, das stimmt«, pflichtete Bowly ihm bei, der seine Überraschung nicht verbergen konnte.
»Und Sie haben Ihre Sache gut gemacht, denn ich wurde freigesprochen.«
Trotzdem war Dr. Bowly auf der Hut.
»Ich weiß«, fuhr Nathan fort. »Einer meiner Mitarbeiter hat Ihren Fall bearbeitet, und ich glaube mich zu erinnern, dass Sie dem Finanzamt einige Belege nicht vorgelegt hatten.«
»Was . was wollen Sie damit sagen?«
»Nehmen wir mal an, ich hätte ein paar Freunde bei der Finanzverwaltung, die vielleicht an diesen Informationen interessiert sein könnten.«
»Das verstößt gegen sämtliche Praktiken Ihres Berufs«, protestierte der Arzt.
»Natürlich«, gab Nathan zu, »aber Sie lassen mir keine Wahl.«
Als sich der Anwalt in die Penitent Street einfädelte, wurde er durch die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos geblendet.
So ein Blödmann!
Er ließ das Handy fallen, um das Steuer nach rechts herumzureißen, und konnte gerade noch einen Zusammenstoß mit dem anderen Auto vermeiden. »Hallo«, sagte er, als er sein Handy wieder aufgehoben hatte.
Einen Augenblick lang glaubte er, Bowly habe aufgelegt, aber nach längerem Schweigen sagte der Arzt mit einer Stimme, die entschlossen klingen sollte:
»Nie und nimmer lasse ich mich derart erpressen. Wenn Sie glauben, dass ich mich beeindrucken lasse durch …«
»Ich will gar nichts Besonderes von Ihnen«, seufzte Nathan. »Nur eine Generaluntersuchung, und zwar noch heute. Natürlich zahle ich den vollen Preis.«
Er fand einen Parkplatz in der Nähe der Klinik. Allmählich wich die Nacht dem Tag.
Er schlug die Wagentür zu, betätigte die Zentralverriegelung und ging die von schmiedeeisernen Straßenlaternen gesäumte Straße hoch.
Am Hörer ließ Dr. Bowly eine Weile verstreichen, dann gab er nach:
»Hören Sie, mir gefallen Ihre Methoden nicht, aber ich werde mich
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