Ein Engel im Winter
waren. Überall im Raum waren kleine Kerzen angezündet, wie Leuchtfeuer, während im Hintergrund leise, überirdisch schöne Kirchengesänge erklangen. All diese Dinge schufen eine friedliche und beruhigende Atmosphäre.
Vom Personal schien jeder Einzelne so mit seiner Aufgabe beschäftigt zu sein, dass niemand wirklich auf Nathan achtete.
Er vertiefte sich für einen Moment in den Anblick einer noch jungen Frau, die in einem Rollstuhl saß. Sie war abgemagert, ihr Kopf hing in einer unnatürlich starren Haltung zur Seite. Ein Mitglied des Pflegepersonals fütterte sie mit kleinen Löffeln Suppe und erklärte ihr das Fernsehprogramm. Es lief gerade ein Zeichentrickfilm.
Nathan spürte eine Hand auf der Schulter.
»Hallo, Del Amico«, begrüßte ihn Goodrich. Er wirkte überhaupt nicht erstaunt, ihn zu sehen.
»Sie statten uns also einen kleinen Besuch ab?«
»Das ist alles sehr beeindruckend, Garrett. Ich habe so etwas noch nie gesehen.«
Der Arzt ließ ihn alles anschauen. Es gab ungefähr hundert Betten für unheilbar Kranke, zumeist solche mit Krebs im Endstadium, mit Aids oder einer neurologischen Erkrankung. Viele waren körperlich verunstaltet, und anfangs fiel es dem Anwalt schwer, ihren Anblick zu ertragen.
Am Ende eines Flurs wagte er Goodrich zu fragen:
»Wissen die Kranken, dass …«
»Sie sterben werden? Natürlich. Hier werden sie nicht belogen: Die letzten Stunden sollen nicht von einer Lüge überschattet werden.«
Mit Nathan im Schlepptau beendete Garrett seinen abendlichen Rundgang. Er war heiter und gelassen, nahm sich Zeit, mit jedem Kranken ein paar Worte zu wechseln. Meist drehte sich die Unterhaltung nicht um die Krankheit: Er erkundigte sich bei denen, die Besuch bekommen hatten, nach der Familie oder den Freunden. Mit anderen unterhielt er sich – manchmal ausführlich – über die neuesten Sportergebnisse, das Wetter oder internationale Ereignisse. Er fand immer die richtigen Worte und verbreitete überall gute Laune. Selbst die schwierigsten Patienten entspannten sich, und nur selten verließ er ein Zimmer, ohne ein Lächeln auf die Gesichter gezaubert zu haben. Dieser Typ hätte einen gefährlichen Anwalt abgegeben , dachte Nathan.
Die Krankenbesuche hatten ihn aufgewühlt, doch die Atmosphäre wirkte weniger morbid, als er befürchtet hatte. Es schien, als habe man den Tod vorübergehend verabschiedet, obwohl man genau wusste, dass er ganz in der Nähe weilte.
Goodrich stellte ihm einige der vielen ehrenamtlichen Helfer vor, die hier tätig waren. Nathan bewunderte diese Menschen, die einen Teil ihrer Zeit für andere opferten, und musste unwillkürlich an seine Frau denken. Er kannte sie gut, er wusste, sie hätte sich hier wohl gefühlt, sie wäre fähig gewesen, Licht in das Leben der Kranken zu bringen, Optimismus zu verbreiten. Er hätte gern Mitgefühl für die Menschen empfunden, aber er hatte nie gelernt, auf andere einzugehen.
Dennoch, um nicht als Einziger in der ganzen Einrichtung untätig zu bleiben, bot er in mehreren Zimmern schüchtern seine Hilfe an: Er unterhielt sich mit einem jungen aidskranken Fotografen über eine Fernsehsendung und half einem alten Mann mit einem Luftröhrenschnitt, sein Abendbrot zu essen.
Als Nathan ihm den letzten Löffel Kompott reichte, merkte er, dass seine Hand leicht zitterte. Die Hustenanfälle und das Räuspern des Patienten erschreckten ihn und verursachten ihm Unbehagen. Er war unfähig, angesichts so großen Leids seine Gefühle zu verbergen. Er sollte sich bei dem alten Mann entschuldigen, aber der tat so, als bemerke er gar nicht, wie er sich schämte. Er dankte Nathan mit einem Lächeln, dann schloss er die Augen.
In diesem Augenblick betrat Goodrich das Zimmer. Er erkannte Nathans Verwirrung.
»Kommen Sie zurecht, Del Amico?«
Der Anwalt ignorierte die Frage. Er heftete seinen Blick auf das erstaunlich friedliche Gesicht des Sterbenden.
»Dieser Mann hat anscheinend keine Angst. Können Sie mir erklären, warum?«, fragte er leise, als sie sich entfernten.
Garrett nahm die Brille ab, rieb sich die Augen und überlegte gut, was er auf diese Frage antworten sollte.
»Gil gehört zu den Patienten, die schon sehr lange bei uns sind. Er ist bereits ziemlich alt und hat seine Krankheit bewusst akzeptiert. Dadurch hatte er genug Zeit, seine Angelegenheiten zu regeln und Frieden mit der Welt zu schließen.«
»Ich werde nie so sein«, stellte Nathan fest.
»Sie kennen doch die Maxime: ›Wenn du die Hoffnung
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