Ein Engel im Winter
sie gut gelaunt:
»Aber Mama ist doch auch mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden.«
»Ja, mein Schatz, du hast Recht. Aber sie ist anders: Sie verachtet die Menschen nicht, die aus einem anderen Milieu stammen. Sie ist anständig.«
»Ja, das weiß ich.«
»Und du musst auch anständig sein, verstehst du? Du darfst die Menschen, die in deiner Schule sauber machen oder dich in der Cafeteria bedienen, nicht verachten. Man verdient auch Respekt, wenn man nicht so viel Geld hat, verstehst du?« Da sie intelligent war, machte sie ihn auf seine Widersprüche aufmerksam:
»Aber … aber du hast doch immer gesagt, dass in Amerika Menschen, die wirklich Geld verdienen wollen, es auch schaffen?«
»Na ja, manchmal rede ich einfach Unsinn, wie alle anderen auch.«
»Soll ich dann die Reichen verachten?«
»Natürlich nicht! Du sollst nur die Menschen nicht nach ihrem Geld beurteilen, sondern nach ihrem Verhalten. Verstehst du?«
»Verstanden, Pa.«
Dann fuhr sie in vertraulichem Ton fort:
»Weißt du, ich glaube nicht, dass Mama Vince liebt.«
Von dieser Bemerkung überrascht, schwieg er einen Moment. Dann fuhr er fort:
»Manchmal muss man jemanden nicht lieben, um mit ihm zu leben.«
Warum erzähle ich ihr so was? Sie ist doch noch ein kleines Mädchen. Sie kann das nicht verstehen.
»Aber ich glaube, dass Mama Liebe braucht im Leben.«
In diesem Augenblick hörte er Mallorys Stimme, die von der Küche aus nach ihrer Tochter rief.
»Ich muss runter«, sagte Bonnie und öffnete die Tür ihres Zimmers.
»Okay, Baby.«
Doch zuvor flüsterte sie noch in den Hörer:
»Weißt du, ich bin ganz sicher, dass Mama Vince nicht liebt.«
»Und woher willst du das wissen?«
»Frauen wissen so etwas eben.«
Sie war wirklich rührend. Um seine Bewegung zu verbergen, zwang er sich zu einem ernsten Ton: »Du bist noch keine Frau, bist ein kleines Mädchen, das jetzt schnell seine Cornflakes aufessen muss. Aber ich liebe dich sehr, mein Eichhörnchen. Mehr als alles auf der Welt.«
»Ich liebe dich auch.«
Nathan drehte die Heizung des Jeeps auf, während er darüber nachdachte, was seine Tochter ihm gerade versichert hatte.
Ehrlich gesagt, verstand er überhaupt nicht, was seine Frau an diesem Tyler fand: Er war selbstgefällig, arrogant und gehörte zu jener Sorte Mensch, die davon überzeugt war, dass sie durch ihre bloße Herkunft allen anderen Menschen überlegen war.
Aber nach allem, was geschehen war, hatte Vince vielleicht wirklich Chancen bei Mallory. Er war vor Ort, konnte Mallory täglich sehen und vor allem war er immer verfügbar. Zum ersten Mal in seinem Leben sagte sich Nathan, dass er Mallory vielleicht für immer verloren hatte.
Es war seltsam, sogar bei der Scheidung hatte er immer gehofft, dass sie eines Tages zu ihm zurückkehren, dass es sich nur um eine vorübergehende Trennung handeln würde. Umso mehr, da er selbst nie ernsthaft vorhatte, eine Beziehung mit einer anderen Frau anzufangen. Seit seiner Scheidung war er zwei oder drei Mal mit Frauen ausgegangen, aber das waren kurze Flirts ohne jede Zukunft. Auf jeden Fall konnte es keine mit Mallory aufnehmen.
Wie ein Wracksucher hatte er sie aus den tiefsten Tiefen des schlammigen Wassers des Sankaty Head geborgen.
Und dadurch war seine Liebe unauslöschlich geworden.
Um zwei Uhr nachmittags beendete Candice ihre Arbeit.
In verblichenen Jeans und Lederjacke stieg sie in einen alten verbeulten Pick-up, den sie in der Nähe des Coffeeshops geparkt hatte. Nathan startete seinen Jeep und fuhr ihr nach. Zu dieser Tageszeit herrschte dichter Verkehr. Wie im Film nutzte er die erste rote Ampel, um sich zwei Wagen hinter Candice einzufädeln. Noch nie war er jemandem hinterhergefahren, und er fürchtete bemerkt zu werden.
Der Pick-up verließ das Zentrum in Richtung Süden. Candice fuhr etwa zwanzig Minuten, bis sie in ein ruhiges Arbeiterviertel gelangte. Sie hielt vor einem kleinen Siedlungshaus.
Wohnte sie hier?
Nachdem sie geläutet hatte, öffnete eine korpulente Frau mit jovialem Gesicht die Tür. Candice ging ins Haus, um keine fünf Minuten später zurückzukehren. Sie trug einen kleinen Jungen von etwa einem Jahr auf dem Arm, der in einer viel zu großen Fliegerjacke versank.
»Tausend Dank, Tania«, rief sie fröhlich ins Haus zurück.
Sie hielt ihr Kind fest an sich gedrückt. Es trug eine flammend rote Mütze.
Candice setzte das Baby vorsichtig auf den Rücksitz, schnallte es an und schlug die Richtung zum nächsten
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