Ein Engel im Winter
Supermarkt ein. Auf dem Parkplatz setzte sie den Kleinen in einen Einkaufswagen und steuerte auf das Gebäude zu. Nathan blieb ihr auf der Spur.
Bedächtig erledigte sie ihre Einkäufe. Sie achtete zweifellos darauf, ihr Budget nicht zu überschreiten. Geradezu systematisch wählte sie die günstigsten Produkte aus, doch das Ganze schien ihr Spaß zu machen. Manchmal blieb sie stehen, flüsterte ihrem Sohn etwas ins Ohr, küsste ihn und machte ihn auf besonders interessante Artikel aufmerksam.
»Josh, schau mal den großen Fisch da drüben! Und da, siehst du die schöne Ananas?«
Der Junge lächelte und betrachtete voller Neugier alles, was ihn umgab. Candice versicherte ihm mehrere Male, wie hübsch und reizend er sei, und kaufte ihm zur Belohnung eine kleine Tüte Marshmallows.
Nathan erkannte sofort, dass diese Frau sich in ihrer Haut wohl fühlte und dass ihr Glück echt war. Er fragte sich, ob sie mit jemandem zusammenlebte oder allein erziehende Mutter war. Er vermutete Letzteres, kam aber ins Grübeln, als Candice unterwegs an einem Lokal anhielt, das Alkohol verkaufte, und mit einem Sechserpack Budweiser herauskam.
Merkwürdigerweise konnte er sich nicht vorstellen, dass sie Bier trank.
Auf dem Parkplatz ging er dicht an ihr vorüber. Ihr Gesicht wirkte ganz entspannt. Als er das Baby betrachtete, musste er an seinen eigenen Sohn denken.
Sie stieg wieder in den Pick-up, und er nahm erneut die Verfolgung über die kleine Insel auf.
Staten Island war übersät von kleinen Hügeln und lag näher an New Jersey als an New York. Hier war man weit entfernt vom Stress, der im Village herrschte. Es gab viel mehr frei stehende Häuser, und die Atmosphäre war im Gegensatz zu Manhattan friedvoll und familiär.
Seit einige Bewohner der baufälligen Viertel Brooklyns hierher gezogen waren, um Ruhe und Sicherheit zu finden, war die Bevölkerung dieses Vororts beträchtlich angewachsen. Die Bewohner Manhattans belächelten diesen Ort jedoch weiterhin als provinziell und hinterwäldlerisch. Die Menschen, die sich in Staten Island niedergelassen hatten, beantragten im Gegenzug ihre verwaltungsmäßige Trennung von Manhattan, weil sie die hohen Steuern nicht mehr zahlen wollten, von denen lediglich ihre verschwenderischen Nachbarn profitierten.
Candice fuhr bis zu der Siedlung, in der sie ihren Sohn abgeholt hatte, hielt dieses Mal jedoch nicht bei Tania. Sie bog nach rechts ab und schwenkte auf einen Teerweg ein, der zu einem der letzten Häuser der Siedlung führte.
Der Anwalt hielt ungefähr fünfzig Meter von dem Haus entfernt. Er erinnerte sich an das Fernglas, das er letztes Jahr gekauft hatte, als er mit Bonnie ein Wochenende in Stowe Mountain verbracht hatte. Wo nur konnte es sein? Er kramte auf den Rücksitzen und fand es schließlich unter einem Sitz. Entschlossen griff er danach und richtete es auf das Haus von Candice Cook.
Die junge Frau schäkerte gerade mit einem Mann. Es war ein hochgewachsener hagerer Typ über sechzig mit einer Baseballkappe auf dem Kopf und einer Zigarette hinter dem Ohr. Er erinnerte Nathan irgendwie entfernt an Clint Eastwood.
Vielleicht ihr Vater.
Der Mann hatte seine Arbeit unterbrochen – er war dabei, die Veranda zu streichen –, um Candice zu helfen, die braunen Einkaufstüten aus dem Kofferraum zu holen. Die beiden schienen sich gut zu verstehen.
»Clint« hob das Kind aus dem Wagen. Das Baby wühlte in seiner Bonbontüte und steckte seinem Großvater ein Marshmallow in den Mund, während Candice den Wagen in die kleine Garage fuhr. Offensichtlich wohnt sie hier.
Candice ging mit Josh ins Haus, und der Mann mit der Zigarette hinterm Ohr reinigte seine Pinsel. Sie brachte ihm eine Flasche Budweiser heraus, die sie gerade gekauft hatte. »Clint« dankte ihr, legte den Arm um ihre Schultern und ging mit ihr ins Haus.
Der Tag war grau gewesen, und es begann zu dämmern.
Im Wohnzimmer ging Licht an, die drei Silhouetten verwandelten sich in ein Schattenspiel. Lachen vermischte sich mit Fernsehlärm. Nathan fragte sich, weshalb dieses Mädchen immer noch bei seinem Vater wohnte.
Er blieb reglos in seinem Auto sitzen, ein passiver Betrachter fremden Glücks.
Wenn die Menschen nach Hause zurückkehrten, hatten sie zu tun: Sie berichteten ihrer Familie von ihrem Tag, schlugen die Zeitung auf, sprachen über das kommende Wochenende …
Er hatte nichts mehr von alldem.
Er fühlte sich elend und drehte die Heizung im Jeep noch höher. Dann legte er das Fernglas zur
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