Ein Engel im Winter
einen empörten Blick zu.
»Was um alles in der Welt berechtigt Sie, derart in das Leben von Menschen einzugreifen?«
»Für Candice war dieses Wiedersehen notwendig. Sie hatte immer in dem Wahn gelebt, ihr Vater habe sie verlassen. Es war tröstlich für sie zu wissen, dass ihr Vater nie aufgehört hatte, sie zu lieben.«
»War das so wichtig?«
»Wissen Sie, die Abwesenheit eines Vaters ist nicht gerade ein Grund, eine hohe Meinung von ihm zu entwickeln.«
»Das kommt drauf an«, erwiderte Nathan, »mein Vater hat meine Mutter geschlagen, bis er eines Tages ans andere Ende der Welt verschwand. Deshalb habe ich ihn eigentlich nicht sehr vermisst …«
Unbehagliches Schweigen breitete sich aus.
»Dieser Mann hatte sein Leben verpfuscht. Er hat es aber nach und nach wieder aufgebaut. Er hat alles Recht der Welt, seine Tochter wiederzufinden und endlich seinen Enkel kennen zu lernen.«
»Aber wenn Sie doch wissen, dass Candice sterben wird! Schützen Sie sie! Sorgen Sie dafür, dass das nicht eintritt!«
Goodrich schloss die Augen und erwiderte fatalistisch:
»Ich habe mich darauf beschränkt, die Mitglieder dieser Familie wieder zusammenzubringen und ihnen ein wenig Trost zu spenden, aber wie ich Ihnen bereits erklärt habe: Niemand kann den Lauf der Dinge ändern. Sie müssen das akzeptieren.« Der Anwalt sprang auf.
»Wenn ich all das akzeptiert hätte, was man mir in meinem Leben je aufzwingen wollte, würde ich heute noch in einer Fabrik Kisten stapeln.«
Goodrich erhob sich und unterdrückte ein Gähnen.
»Sie haben die unangenehme Eigenschaft, alles auf sich zu beziehen.«
»Das kann ich eben am besten.«
Der Arzt hielt sich am Geländer einer kleinen Treppe fest, die in der Mitte des Raumes nach oben führte.
»Wenn Sie wollen, können Sie hier übernachten. Im ersten Stock habe ich ein Gästezimmer mit einem frisch bezogenen Bett.«
Draußen hörte man den stürmischen Wind und das Geräusch der Wellen, die sich am Strand brachen. Man spürte, wie nah der Ozean war, ganz nah.
Nathan hatte keine Lust, in sein leeres, kaltes Apartment zurückzukehren, und wusste, dass er zu viel getrunken hatte, also nahm er die Einladung bereitwillig an.
Kapitel 11
She’s like a rainbow…
The Rolling Stones
13. Dezember
Als Nathan am frühen Morgen ins Wohnzimmer hinunterging, war Goodrich bereits zum Forellenfang aufgebrochen. Der Arzt hatte ihm eine Nachricht auf dem Tisch hinterlassen:
»Schließen Sie die Tür ab, wenn Sie gehen, und werfen Sie die Schlüssel in den Briefkasten.«
Nathan stieg in sein Auto und fuhr in Richtung Staten Island. Auf der ganzen Fahrt grübelte er über seine zwiespältigen Gefühle gegenüber Garrett, denn er schwankte zwischen Abneigung und Faszination. Sicher, dieser Mann verursachte ihm häufig Unbehagen, doch manchmal fühlte er sich – für Momente – so völlig im Einklang mit ihm wie mit einem Verwandten. Er konnte sich seine widerstrebenden Gefühle nicht erklären.
Nathan verbrachte den Tag damit, Candice und ihre Familie zu beobachten. Mehrere Male fuhr er zwischen dem Coffeeshop und dem kleinen Haus hin und her.
Dieses Mal blieb das Baby bei seinem Großvater. Von draußen konnte Nathan nur ahnen, was sich im Innern des Hauses abspielte. Er stellte jedoch fest, dass »Clint« sorgsam darauf achtete, jedes Mal zum Rauchen auf die Terrasse zu gehen. Der Sechzigjährige werkelte den ganzen Vormittag in aller Ruhe vor sich hin, und am Nachmittag ging er mit seinem Enkel spazieren. Er kümmerte sich sehr fürsorglich um den Kleinen, deckte ihn zu, damit ihm nicht kalt wurde, und schob mit größter Selbstverständlichkeit den Kinderwagen.
Nathan betrachtete die beiden aus der Ferne, wie sie im Botanischen Garten zwischen den großflächigen Blumenbeeten und den tropischen Pflanzen des Treibhauses umherspazierten. Wäre er näher herangekommen, hätte er hören können, wie »Clint« alte Südstaaten-Lieder summte, um den Kleinen zu unterhalten.
In all diesen Stunden allein im Auto dachte Nathan oft an Mallory: an die glücklichen Augenblicke mit ihr, die für immer vorbei waren, an ihr Lächeln, an ihre Art, sich über ihn lustig zu machen und ihm den Kopf zurechtzusetzen.
Mehrere Male versuchte er mit San Diego zu telefonieren, erreichte aber immer nur den Anrufbeantworter.
Er fühlte sich überhaupt nicht wohl. In solchen Momenten der Wehmut sah er seinen Sohn besonders lebhaft vor sich.
Er erinnerte sich an alles, und alles fehlte ihm: die
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