Ein Engel im Winter
körperliche Berührung, seine weichen Wangen, seine warme Fontanelle und seine kleinen Hände, mit denen er vor dem Einschlafen wild herumfuchtelte.
Es tat ihm weh sich vorzustellen, was er für immer verloren hatte: das erste Weihnachten seines Sohnes, seine ersten Schritte, seinen ersten Zahn, seine ersten Worte …
Bei Einbruch der Dämmerung fuhr Candice in Windeseile nach Hause, bevor sie ihren Abendjob antrat. Freitags bediente sie immer in einer beliebten Bar in der Stadt. Natürlich wäre sie lieber zu Hause bei ihrem Vater und dem kleinen Josh geblieben. Sie hätten sich zu dritt einen gemütlichen Abend machen können: Sie hätten sich etwas Gutes kochen, ein Feuer im Kamin anzünden und Musik hören können. Aber sie durfte keine Gelegenheit zum Geldverdienen auslassen. Weihnachten stand vor der Tür. Sie liebte dieses Fest, aber es war eben auch mit Ausgaben verbunden.
Candice trat aus der Dusche und öffnete behutsam die Tür zum Zimmer ihres Sohnes. Sie hatte gedacht, er weine. Sie näherte sich dem Bett. Josh schlief offensichtlich den Schlaf der Gerechten. Falscher Alarm, aber es war besser, wachsam zu bleiben: Ihre Nachbarin Tania Vacero hatte ihr von einer Grippeepidemie berichtet, die im Viertel grassierte.
Beruhigt ging sie hinaus, nicht ohne dem Baby zuvor einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Dabei warf sie einen Blick auf die Wanduhr. Ihr Dienst begann in zwanzig Minuten. Sie musste sich beeilen, um nicht zu spät zu kommen. Vor einem alten, fleckigen Spiegel machte sie sich zurecht, schlüpfte schnell in den Rock und die Bluse ihres Kostüms. Joe, der Inhaber der Bar, wollte, dass seine Kellnerinnen besonders sexy aussahen, und er erinnerte sie häufig daran.
Sie umarmte ihren Vater, hörte sich seine Warnungen an, vorsichtig zu sein, protestierte der Form halber ein wenig (»Papa, ich bin doch keine vierzehn mehr!«) und verschwand in der Nacht. Sie war glücklich, wieder mit ihm unter einem Dach zu leben. Sie fühlte sich sicher, weil ein Mann im Haus war. Außerdem kümmerte er sich liebevoll um Josh …
Erst nach mehrmaligen Versuchen brachte sie ihren alten Pick-up Chevy in Gang, das einzige Fahrzeug, das sie je besessen und vor Urzeiten (beim Amtsantritt von George Bush senior) gekauft hatte. Sicher, das Auto war nicht mehr neu, aber wenn es erst einmal lief, fuhr es auf kurzen Strecken perfekt.
Heute Abend hatte Candice gute Laune. Sie schaltete das Radio ein und trällerte Shania Twains Refrain:
Man! I feel like a woman!
Sie gähnte herzhaft und musste dafür ihren Gesang unterbrechen. Mein Gott, wie müde sie war! Zum Glück war morgen ihr freier Tag. Sie konnte ausschlafen und Josh zu sich ins Bett holen. Später wollte sie Weihnachtsgeschenke einkaufen gehen. Im Handelszentrum hatte sie zwei Plüschtiere entdeckt: einen lustigen Bär und eine Schildkröte mit langem Hals, die sie witzig fand. Josh war noch klein, in dem Alter, in dem man Spielsachen liebt, die zum Einschlafen mit ins Bett dürfen. In ein paar Jahren, wenn er älter war, würde sie ihm ein Fahrrad, dann Bücher und einen Computer kaufen.
Candice gähnte erneut. Selbst wenn einige Menschen das Gegenteil behaupteten, sie fand das Leben in diesem Land keineswegs einfach. Jeden Monat versuchte sie ein paar Dollar für das Studium des Kleinen auf die Seite zu legen, aber es fiel ihr schwer, über die Runden zu kommen, und ein bisschen mehr Geld hätte ihr geholfen. Ja, Josh sollte auf die Universität gehen. Und Candice hoffte, dass er später einen angesehenen Beruf ausüben würde: vielleicht Arzt, Lehrer oder sogar Anwalt.
19.58 Uhr
Sie fuhr zur selben Zeit auf den Parkplatz wie ein imposanter marineblauer Jeep. Dann betrat sie Sally’s Bar, in der es bereits hoch herging. Der Schankraum war zu drei viertel voll. Das Bier floss in Strömen, und Springsteens Songs erklangen in voller Lautstärke. Hier herrschte eine volkstümliche Stimmung, die eher an New Jersey als an New York erinnerte.
»Da ist ja die Schönste von allen«, rief ihr Joe Conolly zu, der hinter seinem Tresen amtierte.
»Hallo, Joe.«
Conolly war ein ehemaliger Polizist aus Dublin, der seit fünfzehn Jahren auf Staten Island lebte. Nach allgemeiner Meinung war seine Bar clean und wurde hauptsächlich von Polizisten und Feuerwehrleuten der Stadt besucht. Seit Candice hier arbeitete, hatte sie niemals ernsthafte Probleme gehabt: Streits arteten nie zu Schlägereien aus, und die Kellnerinnen wurden respektiert.
Die junge Frau band
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