Ein Engel im Winter
Tyler sofort.
Sein unmerkliches höhnisches Grinsen entging dem Anwalt keineswegs. Vince rückte etwas näher an Nathan heran und flüsterte ihm ins Ohr, um die Pointe noch wirkungsvoller zu machen:
»Sie ist nicht mehr deine Frau, sondern bald meine.«
In diesem Moment erkannte Nathan, dass ihm nichts anderes übrig bleiben würde, als Tyler mit der Faust ins Gesicht zu schlagen, um sein Gesicht zu wahren. Sein ganzes Leben lang hatte er sich gegenüber Typen wie Tyler behauptet. Er würde sich zu diesem Entschluss durchringen, selbst wenn er unvernünftig und politisch inkorrekt sein sollte, selbst wenn er ihn noch weiter von seiner Frau entfernte. Merkwürdigerweise musste gar nicht so viel passieren, begriff Nathan, damit sich der große Anwalt aus der Park Avenue wieder in den Sohn der italienischen Haushaltshilfe verwandelte, dem bad boy in den Straßen von Queens, der, als er noch klein war, nicht gezögert hatte, seine Fäuste zu gebrauchen. Man wird schnell von seiner Vergangenheit eingeholt, selbst wenn man sein ganzes Leben damit zugebracht hat, sich von ihr zu entfernen.
Die Tür ging auf, Bonnie erschien und wirkte sofort besänftigend auf ihn.
»Buenos días!«, rief sie fröhlich, als sie eintrat.
La Jolla lag weniger als zwanzig Kilometer von der mexikanischen Grenze entfernt, und Bonnie machte sich häufig einen Spaß daraus, ein paar spanische Wörter zu verwenden, die sie in der Schule oder auf der Straße aufgeschnappt hatte.
Seine kleine Tochter stand vor ihm, und plötzlich schienen sich all der angesammelte Groll und seine Wut auf Tyler in Luft aufzulösen. Seine Tochter war da, und nichts anderes zählte mehr.
Bonnie umarmte ihn stürmisch. Er hob sie hoch und wirbelte mit ihr im Kreis herum.
Sie trug ein buntes Kleid, das ihre braune Haut gut zur Geltung brachte, und eine peruanische Mütze, deren seitliche Enden über ihren Ohren baumelten. In dieser Aufmachung sah sie wirklich witzig aus. »Dir fehlt nur noch ein Poncho, und dann könntest du eine Herde Lamas über die Weiden im Hochland der Anden treiben«, sagte er und setzte sie ab.
»Krieg ich eins zu Weihnachten?«, fragte sie rasch.
»Einen Poncho?«
»Nein, ein Lama.«
»Das war nur ein Scherz, mein Liebling«, hörte er Mallorys Stimme.
Nathan wandte sich um. Mallory stieg die Stufen der Treppe herunter und zog Bonnies Reisetasche hinter sich her.
Sie begrüßte ihn flüchtig. Er stellte ihr Garrett als einen renommierten Chirurgen vor, der gerade an einem Kongress in San Francisco teilgenommen hatte und mit dem er geschäftlich zu tun hatte. Sie war ein wenig verwundert, ließ sich aber nichts anmerken und begrüßte den Arzt höflich.
»Wir sind sehr spät dran«, bemerkte sie und warf einen ostentativen Blick auf ihre Uhr.
Na, so was! Als ob es dir so wichtig wäre, pünktlich im Restaurant zu erscheinen!
Nathan entschied jedoch, ihr nicht zu widersprechen, denn das wäre sinnlos gewesen. Zudem wollte er unter keinen Umständen in Vinces Anwesenheit mit ihr streiten. Er antwortete lediglich im selben Ton.
»Wir sind auch nicht gerade zu früh dran: Unser Flieger geht in einer Stunde.«
»Ihr fliegt über Los Angeles?«, fragte sie, während sie die Alarmanlage einschaltete.
Nathan nickte.
Vince ging als Erster hinaus und klapperte mit seinem Autoschlüssel, Mallory, Nathan und Bonnie folgten ihm.
Draußen wurde es allmählich dunkel. Man spürte ein nahendes Gewitter. Mallory schloss die Tür, dann umarmte sie lange ihre Tochter.
»Gute Reise, und vergiss nicht mich anzurufen, wenn du in New York angekommen bist!«
Sie entfernte sich, ging die Straße hinauf zu Tylers metallic lackiertem Porsche, der ein bisschen weiter oben geparkt war.
»Hasta luego!«, rief Bonnie ihr nach und winkte mit ihrer peruanischen Mütze.
Mallory drehte sich um und winkte zurück, würdigte jedoch Nathan keines Blickes.
»Bon appétit«, rief er auf Französisch und legte all die Bitterkeit und Trauer, die er fühlte, in seine Stimme. Sie reagierte nicht.
Nathan griff nach Bonnies Hand. Sie gingen auf dem Bürgersteig die Straße hinunter und folgten Garrett, der ganz selbstverständlich die Reisetasche genommen hatte.
Der Porsche war dröhnend losgebraust und kam direkt auf sie zu. Wie um zu provozieren fuhr Tyler ganz dicht an dem Anwalt vorbei. Dies war eines der blödsinnigen Spiele, die Männer zuweilen inszenieren, um ihre Kräfte zu messen …
Mallory saß auf dem Beifahrersitz und hatte sich gebückt, um in
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