Ein Engel im Winter
Verkleinerungsformen nicht, und Spitznamen noch viel weniger.
Nathan wollte nur eines: seine Frau sehen. Dennoch zögerte er, geradewegs in ihr Zimmer hinaufzustürmen, weil er sich nicht sicher war, ob Mallory das gefallen würde. Es war besser, er wartete hier unten.
Als wollte er ihn noch mehr ärgern, fuhr Tyler fort:
»Wir gehen heute zum Hummeressen ins Crab Catcher.«
Das Crab Catcher war ein Nobelrestaurant, das an der Prospect Street über dem Ozean thronte.
Unser Restaurant, dachte Nathan, dort habe ich sie gefragt, ob sie mich heiraten will, dort haben wir Bonnies Geburtstage gefeiert…
Als er noch studierte, hatte er Woche für Woche Geld gespart, um Mallory in so ein Restaurant einladen zu können.
»Warst du nicht früher mal Kellner da oben?«, fragte Tyler scheinheilig.
Nathan schaute dem Kalifornier in die Augen, fest entschlossen, seine Herkunft nicht zu verleugnen. »Ja, häufig habe ich meine Sommerferien damit verbracht, Rasen zu mähen oder zu kellnern. Und falls dir das Vergnügen bereitet, ich erinnere mich sogar daran, dein Auto gewaschen zu haben, als ich an der Tankstelle arbeitete.«
Tyler tat so, als habe er die Bemerkung nicht gehört. Er saß entspannt auf dem Sofa und schlürfte gelassen seinen Whisky. Mit seinem offenen Hemd unter einer königsblauen Jacke war er das einzige störende Element im Raum. Er hielt einen Werbeprospekt des Restaurants in der Hand und buchstabierte die Weinkarte:
»… Bordeaux, Sauternes, Chianti, ich liebe diese französischen Weine …«
»Chianti ist ein italienischer Wein«, bemerkte Goodrich trocken.
Gut gebrüllt, Löwe.
»Ist ja egal«, brummte Tyler und versuchte seine Verlegenheit zu verbergen.
Dann wechselte er das Thema:
»Und wie laufen die Geschäfte in New York? Kennst du den neuesten Witz über deine Kollegen?«
Und er gab einen uralten Anwaltswitz zum Besten.
»Also: Auf dem Rückweg von einem Jurakongress hat ein Bus voller Anwälte einen Unfall auf dem Land eines Farmers …«
Nathan hörte ihm nicht mehr zu, sondern überlegte, in welchem Stadium sich die Beziehung von Mallory und Vince befand. Offensichtlich hatte es der Kotzbrocken bereits recht weit gebracht. Allerdings hatte Nathan bislang wegen Bonnies offensichtlicher Feindschaft noch nicht eingreifen müssen. Aber wie würde sich die Sache nach einem intimen Essen im Crab Catcher entwickeln?
Auch wenn der Anwalt das Problem noch so oft in Gedanken hin- und herwälzte, er würde nie und nimmer verstehen, was eine so intelligente Frau wie Mallory an diesem Mann anziehend finden konnte.
Sie beide kannten ihn lange genug, um zu wissen, dass er ein arroganter Schwätzer war. In den Zeiten ihrer Liebe sprachen sie oft über Tyler und machten sich über seine plumpen Annäherungsversuche bei Mallory lustig. Aber selbst damals verteidigte seine Frau ihn gelegentlich, indem sie seinen unterhaltsamen Humor und seine Liebenswürdigkeit hervorhob.
Diese vermeintliche Herzensgüte hatte Nathan nie entdecken können, aber er wusste im Gegenzug, dass Tyler diesen Anschein erwecken konnte. Er war der geborene Schauspieler, dem es zuweilen gelang, seine Süffisanz hinter äußerlicher Freundlichkeit zu verbergen.
Kürzlich hatte er sein so genanntes soziales Bewusstsein entdeckt und eine Gesellschaft gegründet, die für Kinderhilfsorganisationen Geld zur Verfügung stellen sollte. Er hatte sie natürlich in aller Bescheidenheit Tyler Foundation genannt. Nathan wusste nur allzu gut, dass sich hinter dieser Anwandlung von Menschlichkeit vor allem der Wunsch verbarg, Steuervorteile zu erlangen und Mallory zu gefallen.
Zwei Fliegen mit einer Klappe, wie man so sagt. Er hoffte nur, dass seine Frau sich nicht täuschen ließ.
Tyler beendete seinen Witz.
»… und sind Sie sicher, dass alle tot waren, als Sie sie beerdigten, fragte der Polizist. Und der Farmer antwortete, manche haben zwar das Gegenteil behauptet, aber Sie wissen ja, wie gut Anwälte lügen können.«
Der Kalifornier brach in lautes Lachen aus.
»Gib doch zu, mein Junge, der ist gar nicht so übel, stimmt’s?«
»Ich bin nicht dein Junge«, antwortete Nathan, fest entschlossen, sich nichts gefallen zu lassen.
»Immer noch so empfindlich, Del Amico? Ich habe es erst gestern Abend gegenüber Lory erwähnt, als sie …«
»Meine Frau heißt Mallory.«
Kaum hatte er es ausgesprochen, merkte Nathan, dass er voll in die Falle getappt war.
»Sie ist nicht mehr deine Frau, mein lieber Junge«, konterte
Weitere Kostenlose Bücher