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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Musso
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ersten Mal. Genau wie ihr Mann war sie nicht besonders gläubig. Dennoch gab es zwischen ihnen eine Art spiritueller Verbindung, die beruhigend und geheimnisvoll zugleich bis in ihre Kindheit zurückreichte und über die sie mit keinem Menschen jemals gesprochen hatte, aus Angst, sich lächerlich zu machen.
    Wieder betrachtete sie ihn. Warum war er zurückgekommen? Bereits am Vormittag war sie stutzig geworden, weil dieser Chirurg ihn begleitete. Irgendwie hatte sie gespürt, dass etwas nicht stimmte. War Nathan vielleicht krank? In den letzten Tagen hatte sie am Telefon mehrmals Angst in seiner Stimme gespürt, und vorhin im Regen hatte sie diese Angst in seinen Augen gesehen.
    Sie kannte diesen Mann, der da auf ihrem Sofa lag, gut, sie kannte ihn so gut, wie sie nie wieder jemanden auf dieser Welt kennen würde. Und soweit sie sich erinnern konnte, hatte Nathan Del Amico noch nie vor etwas Angst gehabt.
    Winter 1984
    Flughafen Genf
    In der Ankunftshalle steht Mallory und wartet. Vor drei Tagen haben sie zum letzten Mal miteinander telefoniert, und heute richtet sie sich darauf ein, ihren zwanzigsten Geburtstag allein in dieser Klinik zu feiern, sechstausend Kilometer von zu Hause entfernt.
    Sie hat ihn gebeten, nicht zu kommen: Der Flug von New York nach Genf ist furchtbar teuer, und sie weiß, dass er kein Geld hat und darunter leidet. Natürlich hätte sie ihm helfen und das Ticket bezahlen können, aber er hätte das nie akzeptiert. Sie ist dennoch hergekommen, um die Ankunft der Swissair-Maschine zu erwarten. Nur für den Fall, dass …
    Zitternd und fiebrig mustert sie die ersten Passagiere, die in die Ankunftshalle kommen.
    Einige Monate zuvor, als sie schon glaubte, es endgültig geschafft zu haben, bekam sie einen Rückfall. Und die letzten Wiedersehen mit Nathan waren ihr auch keine Hilfe gewesen. Seine Liebe stieß auf zu viel Widerstand: die Feindschaft ihrer Eltern, die sozialen Schranken, die geografische Entfernung . Es war so schlimm, dass sie erneut abmagerte, bis sie nur noch vierzig Kilo wog.
    Anfangs war es ihr ohne große Mühe gelungen, ihren Gewichtsverlust vor ihren Eltern und vor Nathan zu verbergen. Als sie in den Ferien nach Hause kam, fand sie einen Weg, um den Eindruck zu vermitteln, sie sei in Topform. Aber ihre Mutter hatte die Veränderung schnell bemerkt. Ihre Eltern reagierten wie gewöhnlich: Sie vermieden Halbheiten und bevorzugten die radikale und einwandfreie Lösung, die, wie sie glaubten, das Problem lösen würde.
    So ist sie in dieser Schweizer Klinik gelandet, in einer sehr teuren Klinik, die sich auf die Psychopathologie Heranwachsender spezialisiert hatte. Seit genau drei Monaten befindet sie sich jetzt in diesem blöden Sanatorium. Allerdings muss sie objektiv betrachtet zugeben, dass die Behandlung Erfolge zeigt, denn sie hat wieder normal zu essen begonnen und einen Teil ihrer Energie zurückgewonnen.
    Dennoch ist jeder Tag ein ständiger Kampf, ein Kampf gegen die zerstörerische Macht in ihrem Innern.
    Alle Ärzte haben ihr erklärt, dass ihre Weigerung, Nahrung zu sich zu nehmen, ein Leiden ausdrückt, das sie zuerst identifizieren muss, wenn sie gesund werden will.
    Aber war es wirklich ein Leiden?
    Ja sicher, so konnte man die Dinge sehen. Oh nein, sie hatte keine schwere Kindheit gehabt und auch kein Trauma erlitten. Nein, es war viel diffuser, ein Gefühl, das sie von Kind an beherrscht hatte und das mit zunehmendem Alter immer stärker wurde.
    Es konnte sie jederzeit und überall treffen. Auf großen Straßen zum Beispiel, wenn sie mit ihren Freundinnen spazieren ging, um in den schicken Läden der Stadt einzukaufen. Sie brauchte nur an den Obdachlosen vorbeizugehen, die in ihren Pappkartons im Schnee schliefen. Jedes Mal war es dasselbe: Niemand schien ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Niemand bemerkte sie wirklich. Aber Mallory sah mehr als das: Diese vor Kälte rot gefrorenen Gesichter ergriffen von ihr Besitz, während sie für die Augen der anderen Menschen anscheinend durchsichtig waren. Somit war es nicht verwunderlich, dass es ihr schwer fiel, sich für die Belanglosigkeiten des Lebens zu interessieren! Sie war sich wohl bewusst, privilegiert zu sein, und litt unter einem Schuldgefühl, das ihr diese Nähe von Reichtum und Armut unerträglich machte.
    Inzwischen sind fast alle Passagiere ausgestiegen. Die letzten kommen die Rolltreppe herunter, nachdem sie den Zoll passiert haben.
    Sie drückt ganz fest die Daumen.
    Wenn sie wieder zu essen begonnen

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