Ein Engel im Winter
Da sie keinen Direktflug bekommen hatten, mussten sie einen Umweg über Washington nehmen, was die Reise ein wenig verlängert hatte.
Der Anwalt betrachtete Goodrich, der neben ihm saß. Der Arzt beendete ohne Eile sein Frühstück, das die Stewardess eine halbe Stunde zuvor serviert hatte.
Nathan wusste überhaupt nicht mehr, was er von Garrett halten sollte. Eines war sicher: Der ganze Ärger hatte angefangen, als der Arzt in sein Leben getreten war. Andererseits konnte er nicht umhin, Garrett gegenüber ein merkwürdiges Gefühl von Bewunderung und Mitleid zu empfinden. Wenn das, was Goodrich behauptete, wahr sein sollte (und Nathan besaß inzwischen die Gewissheit, dass Garrett sehr wohl ein Bote war), war sein Leben alles andere als leicht. Wie konnte man überhaupt mit einer solchen Gabe ein normales Leben führen? Es musste doch zur unerträglichen Bürde werden, ständig von Todeskandidaten umgeben zu sein.
Selbstverständlich wäre es Nathan lieber gewesen, er wäre ihm nie begegnet – oder zumindest unter anderen Umständen –, aber er schätzte diesen Mann: Er war sensibel und wirkte beruhigend. Der Tod seiner Frau, die er leidenschaftlich geliebt hatte, hatte ihn tief getroffen, und nun widmete er sich mit ganzer Kraft seinen Patienten.
Es war nicht leicht gewesen, den Arzt zu überreden, ihn bei dieser Reise nach Kalifornien zu begleiten. Er hatte nämlich für heute eine wichtige Operation geplant, und – abgesehen davon – er konnte dem Zentrum für Palliativmedizin nicht einfach fernbleiben, ohne bestimmte Vorkehrungen getroffen zu haben.
Nachdem alle Drohungen der Welt vergeblich geblieben waren, musste Nathan sich entschließen, das Register zu wechseln. Also hatte er Garrett klar gemacht, worum es wirklich ging: Nathan war ein Mann, der vielleicht zum letzten Mal seine Tochter sehen würde, ein Mann, der seine Frau noch immer liebte und eine letzte Annäherung an sie versuchen wollte: ein Mann, der bald sterben würde und ihn um Hilfe anflehte.
Dieser Verzweiflungsschrei hatte Garrett gerührt, und er hatte beschlossen, die Operation zu verschieben, um Nathan nach San Diego zu begleiten. Außerdem fühlte er sich zumindest teilweise verantwortlich für die Umwälzungen im Leben des Anwalts.
»Essen Sie Ihren Toast mit Lachskaviar nicht?«, fragte Goodrich, als die Stewardess schon begann, die Tabletts wieder abzuräumen.
»Ich habe andere Sorgen«, antwortete Nathan.
»Nehmen Sie ihn ruhig.«
Garrett ließ sich das nicht zweimal sagen. Geschickt fischte er den Toast vom Teller, eine halbe Sekunde bevor die Stewardess das Tablett wegnahm.
»Warum sind Sie so aufgeregt?«, fragte er mit vollem Mund.
»Das passiert mir jedes Mal, wenn mir jemand sagt, dass ich demnächst sterben werde. Ist eine schlechte Angewohnheit von mir.«
»Sie hätten diesen köstlichen australischen Wein probieren sollen, den man uns vorhin gebracht hat. Das wäre Balsam für Ihre Seele gewesen.«
»Ich finde, Sie trinken ein bisschen zu viel, Garrett, wenn ich das bemerken darf.«
Goodrich hatte eine andere Erklärung:
»Ich sorge lediglich gut für mich: Sie vergessen, dass Wein eine Wohltat für die Herzgefäße bedeutet.«
»Das ist doch alles Quatsch.« Der Anwalt untermalte seinen Satz mit einer abwertenden Geste. »Das dient Ihnen doch nur als Ausrede.«
»Überhaupt nicht«, insistierte Goodrich, »das ist wissenschaftlich bewiesen: Die in der Schale der Weintraube enthaltenen Polyphenole hemmen die Produktion von Endothelin, das die Ursache für Gefäßverengungen ist …«
Nathan unterbrach ihn achselzuckend:
»Okay, okay, glauben Sie nur nicht, dass mich Ihre medizinischen Ausführungen beeindrucken.«
»Sie wollen sich nur nicht der Wissenschaft beugen«, erwiderte Goodrich aufgeräumt.
Der Anwalt zog jetzt seinen letzten Trumpf aus dem Ärmel.
»Angenommen, es ist richtig, was Sie sagen, so scheint mir doch, dass ich irgendwo gelesen habe, dass diese Wohltat für die Herzgefäße nur für den Rotwein gilt.«
»Oh, oh… das ist wahr«, musste der Arzt zugeben. Auf dieses Argument war er nicht gefasst gewesen. »Unterbrechen Sie mich, wenn ich mich irre, Garrett, aber mir scheint, der köstliche australische Wein, dessen lebensverlängernde Wirkung Sie preisen, ist ein Weißwein, stimmt’s?«
»Sie sind wirklich ein verdammter Spielverderber!«, bemerkte Goodrich ein wenig gekränkt. Dann fügte er hinzu: »… aber Sie sind vermutlich ein verdammt guter Anwalt.«
Im selben Moment
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