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Ein Engel im Winter

Ein Engel im Winter

Titel: Ein Engel im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Musso
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soll also zu euch kommen, zu dir oder zu Mama?«
    »Ja«, bestätigte Nathan. »Du kannst immer zu uns kommen, wenn du Angst vor etwas hast oder wenn dich etwas beunruhigt. Selbst wenn du größer geworden wirst. Du kannst immer zu uns kommen, zu ihr oder zu mir. Und wenn ich eines Tages sterben werde, hast du immer noch Mama. Du hast eine wunderbare Mutter, und sie wird immer wissen, wie sie deinen Kummer lindern kann.«
    »Das wird trotzdem ziemlich hart«, sagte sie mit zitternder Stimme.
    »Ja«, gab er zu, »das wird hart. Manchmal wirst du dich einsam fühlen, und du wirst weinen wollen. Lass deinen Tränen freien Lauf, weil das gut tut.«
    »Nur Babys heulen«, warf sie ein, den Tränen nahe.
    »Nein, alle Menschen weinen. Ich schwöre es dir. Menschen, die nicht mehr weinen können, sind die unglücklichsten Wesen der Welt. Jedes Mal, wenn du mich nah bei dir haben willst, kannst du an einen Ort gehen, an dem wir beide gern zusammen gewesen sind, und mit mir reden.«
    »Redest du manchmal mit Sean?«
    Er sagte ihr die Wahrheit und war geradezu erleichtert, es tun zu können.
    »Ja, ich spreche immer noch mit Sean und mit meiner Mutter. Sean lebt in meinem Herzen weiter. Er wird immer mein Sohn sein. Und das soll für dich genauso sein: Ich werde immer dein Vater sein und Mama immer deine Mutter. Auch noch wenn wir tot sind, das ändert nichts.«
    »Gehst du auf den Friedhof, wenn du mit ihnen reden willst?«
    »Nein, ich mag Friedhöfe nicht. Ich geh in den Park, morgens, sehr früh, wenn noch fast keiner da ist. Ich sag allen Leuten, ich gehe joggen, um in Form zu bleiben, aber in Wirklichkeit gehe ich joggen, um bei ihnen zu sein. Jeder sollte seinen speziellen Ort finden, um mit den Toten zu reden. Das ist wichtig, weil die Person, die wir lieben, unser ganzes Leben lang bei uns bleibt.«
    »Denkst du jeden Tag an sie?«
    »Nein«, log Nathan, »oft, aber nicht jeden Tag.«
    Er spürte, wie eine Gänsehaut seine Unterarme hinaufkroch. Dann fügte er mit dem Blick ins Leere und wie zu sich selbst hinzu:
    »Das Leben ist etwas Wunderbares. Etwas ungeheuer Wertvolles.«
    Sie fiel ihm um den Hals, und sie trösteten sich gegenseitig. In ihrem tiefsten Innern fragte sie sich, wieso diese merkwürdigen Eltern immer nur das Beste voneinander sagten. Unwillkürlich fragte sie sich, warum diese so wundervolle Mutter und dieser so aufmerksame Vater nicht alle beide an Weihnachten bei ihr sein konnten. Aber sie ahnte bereits, dass das Leben der Erwachsenen etwas sehr Kompliziertes sein musste und dass man sich da besser nicht einmischte.
    Das Abendessen verlief in gehobener Stimmung. Nicht ein einziges Mal kamen sie auf düstere oder belastende Themen zu sprechen. Auch wenn die Suppe und der Nudelsalat gelungen waren, fand Bonnie vor allem ihren Kuchen mit dem Zuckerguss und der rötlichen Fruchtcreme deliciosa.
    Am Abend nahmen sie sich Zeit, den Weihnachtsbaum zu schmücken, und hörten dabei Children’s Corner von Claude Debussy, ein Stück, das dem kleinen Mädchen sehr gut gefiel.
    Draußen rieselte der Schnee.
    »Warum mag Mama Weihnachten nicht?«
    »Weil sie meint, dass der wahre Sinn dieses Festes abhanden gekommen ist.«
    Sie schaute ihn mit verwunderter Miene an.
    »Ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst.«
    Er musste aufpassen: Seine Tochter war ja noch ein Kind. Er entschuldigte sich und versuchte dann, sich einfacher auszudrücken.
    »Mama findet, dass wir in der Weihnachtszeit lieber an die Menschen denken sollten, die Not leiden, anstatt immer so viele Sachen zu kaufen, die wir nicht wirklich brauchen.«
    »Das ist doch wahr, oder?«, fragte Bonnie, die sich gar nicht vorstellen konnte, dass es anders sein könnte, da ja ihre Mutter so dachte.
    »Ja, das ist wahr«, bestätigte er. »Wir haben es hier warm und gemütlich, sind in Sicherheit, während andere Menschen allein sind. Und es ist hart, allein zu sein, wenn man traurig ist.«
    »Aber im Moment ist Mama allein«, bemerkte das kleine Mädchen.
    »Vince wird bei ihr sein«, vermutete Nathan ohne rechte Überzeugung.
    »Das glaub ich nicht.«
    »Das sagt dir deine weibliche Intuition?«, fragte er und blinzelte ihr zu.
    »Genau«, konterte Bonnie und schloss beide Augen gleichzeitig.
    Das war ihr »Doppelblinzeln«, wie sie es nannte, sie war die Einzige, die das konnte.
    Er küsste sie aufs Haar.
    Als sie den Weihnachtsbaum fertig geschmückt hatten, schauten sie sich zusammen ein Stück aus der DVD von Shrek an, dem grünen Oger mit den

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