Ein Engel im Winter
Herzens war er stolz auf sich, sie so gut erzogen zu haben. Mallory und er hatten versucht, sich von Anfang an beharrlich zu zeigen und an einigen elementaren Prinzipien festzuhalten: andere Menschen zu respektieren und zu wissen, dass man Rechte, aber auch Pflichten hatte.
Sie hatten sogar der Versuchung widerstanden, ihre Tochter zu sehr zu verwöhnen: Es gab keine Turnschuhe für zweihundert Dollar oder sündhaft teure Designerklamotten. Sie hielten das für übertrieben und fanden die Haltung mancher Eltern entwürdigend, die sich zuweilen von ihren Kindern beleidigen ließen und sich dabei noch über den außergewöhnlichen Wortschatz ihrer Sprösslinge wunderten, statt mit ihnen zu schimpfen!
Nathan fragte sich gelegentlich, was aus diesen unerzogenen Gören werden sollte, nachdem sie wie launische Prinzen behandelt und verhätschelt worden waren. Zweifellos würden sie egomane, unreife junge Erwachsene werden, die sehr tief fallen würden, wenn sie entdeckten, wie viele Zugeständnisse sie machen und wie viele Frustrationen sie im Leben hinnehmen mussten.
Er warf wiederum einen Blick auf seine Tochter. Eingelullt von der Jazzmusik schlief sie friedlich, den Kopf ans Fenster gelehnt, durch das die Sonne hereinflutete und eine Lichtgestalt aus ihr machte. Er versetzte sich in die Zukunft.
Bislang war ihre Erziehung nicht schwierig gewesen, aber das Schwerste stand noch bevor.
Denn unweigerlich würde der Tag kommen, an dem sie abends ausgehen oder sich die Nase oder etwas anderes piercen lassen wollte … Ja, es würde eine Zeit kommen, in der sich ihr Verhältnis verschlechtern und das reizende kleine Mädchen sich in eine undankbare Jugendliche verwandeln würde, die überzeugt davon sein würde, dass ihre Eltern zu alt wären, um sie zu verstehen.
Mallory würde diese Krise allein durchmachen müssen. Er würde nicht mehr da sein, um ihr zu helfen. Er würde manches nicht kennen lernen: die Angst, wenn Bonnie zum ersten Mal abends nicht nach Hause käme, den ersten Verlobten, den sie mit nach Hause bringen würde, die erste Reise, die sie mit Freunden ans andere Ende der Welt planen würde … Dennoch hätte er sich diesen Herausforderungen gerne gestellt.
Wenn er nicht woanders erwartet werden würde.
Sein gutes Verhältnis zu Bonnie führte ihn manchmal in seine frühe Kindheit zurück, in der eine echte Komplizenschaft zwischen ihm und seiner Mutter bestanden hatte, bevor sich diese Art von Gleichgültigkeit zwischen ihnen einnistete, die er noch vertieft hatte. Er gaukelte sich nämlich vor, dass seine einzige Chance, den sozialen Aufstieg zu schaffen, darin bestand, sich kulturell von seinen familiären Ursprüngen zu lösen. Es war eben schwierig für den Sohn einer Haushaltshilfe, New York zu erobern!
Erst vor kurzem hatte er begriffen, dass er entschieden mehr von seiner Mutter mitbekommen hatte, als er bislang geglaubt hatte. Sie hatte ihm eine Mischung aus Mut und Selbstlosigkeit mitgegeben, eine Fähigkeit, sich allem zu stellen, was immer es sein mochte.
Aber er hatte sie sterben lassen, ohne ihr dafür zu danken. In den letzten Jahren vor ihrem Tod, in denen er wirklich gut zu verdienen begann, hätte er auf sie zugehen und seinen Erfolg mit ihr zusammen genießen sollen. Er hätte zu ihr sagen müssen: »Siehst du, wir haben es geschafft, du hast deine Opfer nicht umsonst gebracht, ich bin glücklich.« Stattdessen besuchte er sie immer seltener. Da er zu sehr mit seinem eigenen Kampf beschäftigt war, begnügte er sich damit, ihr jeden Monat Geld zu schicken, damit sie nicht mehr arbeiten musste. Und wenn er mal bei ihr vorbeischaute, dann war er immer in Eile. Er wechselte ein paar belanglose Worte mit ihr und ließ ihr jedes Mal ein größeres Bündel Dollar da, um sein Gewissen zu beruhigen, weil er ein schlechter Sohn war.
Heute überkamen ihn starke Schuldgefühle, wenn er an die verpassten Gelegenheiten dachte, aber das war nicht die einzige Erinnerung, die ihn quälte.
Es gab eine Art Geheimnis zwischen ihnen, eine Episode, über die sie nie mehr gesprochen hatten und an die er sich sein ganzes Leben lang erinnern würde.
Damals war er gerade dreizehn Jahre alt. Es war im Sommer 1977, Anfang August, während der letzten Ferien, die er mit Mallory in Nantucket verbracht hatte (in dem Sommer, in dem sie sich zum ersten Mal geküsst hatten . aber das ist eine andere Geschichte).
Im Jahr zuvor war er aufgrund glänzend bestandener Prüfungen ausgewählt worden, die angesehene
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