Ein Erzfeind zum Verlieben
auf eine Kutsche zu und beugte sich dann vor und ließ die kalte Nachtluft in ihre Lunge strömen.
»So ist es recht, meine Liebe. Holen Sie noch ein paarmal tief Luft«, riet die Stimme. »Ein Schlag auf den Kopf kann den Körper ein wenig durcheinanderbringen. Der Mann ist ein Rohling. Sie können von Glück sagen, ihn los zu sein.«
Ein Schlag auf den Kopf, dachte sie benommen. Eine Straße und eine Kutsche. Eine schrille Stimme und knochige Finger. Langsam kamen die Erinnerungen zurück.
Oh Gott. Sie war entführt worden – man hatte sie auf den Kopf geschlagen, in eine Truhe gestopft und weggeschafft. Es war unbegreiflich, so unwirklich, dass sie Mühe hatte, es zu erfassen. Die Romane, die Kate so gerne las, wimmelten nur so vor jungen Damen, die gegen ihren Willen verschleppt wurden – ein klarer Hinweis darauf, wie weit dieses Szenario von der Realität entfernt war.
Langsam richtete sie sich auf und schirmte mit der Hand das blendende Licht ab. »Wo sind wir?«
»Auf der Straße nach Hause, meine Liebe«, sagte Mr Hartsinger und ließ die Laterne sinken.
»Nach Hause?« Wovon redete der Mann? Welcher Entführer brachte seine Gefangenen nach Hause? »Sie bringen mich nach Haldon?«
Hartsinger kicherte. »Natürlich nicht, Sie dummes Mädchen. Ich bringe Sie in Ihr neues Zuhause, St. Brigit.«
St. Brigit.
Plötzlich erschien ihr ihre Lage gar nicht mehr unwirklich. Kates Geschichten von Fräulein in Nöten mochten zwar erfunden sein, aber Evies Berichte über geistig gesunde, aber unbequeme Frauen, die man in Irrenanstalten steckte, waren beängstigend real.
Ihre Augen huschten auf der dunklen Straße hin und her. Einer Kutsche konnte sie nicht entkommen, vor allem nicht, solange ihr so schwindlig und übel war wie jetzt, aber sie konnte in den Wald rennen, vielleicht konnte sie sich verstecken …
»Ah, ah, ah. Nichts dergleichen«, sang Hartsinger und hob die Pistole, von der sie vergessen hatte, dass er sie besaß. »Und an Ihrer Stelle würde ich mir auch die Mühe sparen, den Kutscher um Hilfe zu bitten.« Er wies mit dem Kinn auf die schattenhafte Gestalt, die gerade die Truhe über den Straßenrand schob. »Ich zahle ihm ein hübsches Sümmchen. Und nun ab in die Kutsche mit Ihnen.«
Sie erwog, ihm den Gehorsam zu verweigern. Wenn sie die Wahl hatte, am Straßenrand erschossen zu werden oder den Rest ihres Lebens mit Menschen wie Mr Hartsinger in einer Irrenanstalt zu verbringen, würde sie die Kugel wählen.
Glücklicherweise stand diese Entscheidung ihr nicht bevor. Sie musste nur abwarten, bis sich ihr eine Gelegenheit zur Flucht bot. Oder bis Whit sie holen kam.
Entschlossen, was das Erstere betraf, und vollkommen sicher bei Letzterem stieg sie in die Kutsche.
Whit hatte schon früher Angst gehabt. An dem Tag, als Mirabelle auf dem Hügel gestürzt war. Und in der Nacht, in der sie darauf bestanden hatte, an dem Auftrag teilzunehmen.
Als Soldat hatte er das Entsetzen erlebt, das jeder Schlacht vorausgeht, und das Grauen, wenn Männer in der Schlacht sterben.
Aber nichts, rein gar nichts war mit der Angst vergleichbar, die ihn jetzt erfüllte.
Er spornte sein Pferd an, im Bewusstsein, wie gefährlich ein kopfloser Ritt im fahlen Mondlicht war. Doch er hatte keine Wahl.
Wie groß war Hartsingers Vorsprung? Fünf Minuten? Eine Viertelstunde? Mehr? Wie lange hatten sie im Stall herumgestanden, während man Mirabelle verschleppt hatte?
In einer Truhe.
War sie immer noch darin? Gefangen und verängstigt?
Diese Vorstellung war ihm fast lieber als die andere Möglichkeit – dass Hartsinger sie herausgeholt hatte und jetzt allein mit ihr in der Kutsche war.
Mit einer Kutsche und einer Viertelstunde Zeit zu seiner Verfügung konnte ein Mann einer Frau Schlimmes antun.
Er gab Christian ein Zeichen, die nächste Abzweigung nach links zu nehmen. Der schmale Pfad war ein weiteres Risiko, aber dies war ihre beste Chance, Hartsinger zu überholen und ihn an der Stelle in einen Hinterhalt zu locken, wo Pfad und Straße zusammentrafen. Mit ein wenig Glück konnten sie den Kutscher aus der Deckung der Bäume heraus überwältigen und eine Hetzjagd vermeiden, die Mirabelle noch mehr in Gefahr bringen würde.
»Nun, ist das nicht gemütlich?« Hartsinger seufzte und nahm auf der Bank Mirabelle gegenüber Platz. Er hielt die Waffe weiterhin auf sie gerichtet und klopfte gegen das Kutschendach, worauf die Kutsche sich wieder in Bewegung setzte. »Möchten Sie eine Decke? Es ist heute Abend ein
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