Ein Erzfeind zum Verlieben
sich zu dem Jungen um und bemerkte, dass er eine kleine Puppe in der Hand hielt. »Ist das wahr, Victor?«
Der Junge zuckte die Achseln und warf Isabelle die Puppe vor die Füße. Sie riss sie hoch und rannte in die Ecke, wo sie ihr Spielzeug in den Armen wiegte und schniefte.
»Ich habe nur gespielt«, sagte Victor unbekümmert.
»Es sah nicht so aus, als wollte sie deine Art von Spiel mitspielen.«
»Was weiß sie denn schon? Sie ist doch nur ein Baby.«
»Bin ich nicht!«, heulte das kleine Mädchen. »Ich bin sechs! Fast.«
»Bist du nicht ein bisschen zu alt, um eine Sechsjährige zu ärgern?«, fragte Mirabelle und stemmte die Fäuste in die Hüften.
Victor schnaubte und zupfte hoheitsvoll an seinen Manschetten. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, Mirabelle.«
Bei der Beleidigung verengten sich ihre Augen. Der Junge war ganz der Vater, dachte sie, ein Mann, dessen betrunkene Aufmerksamkeiten sie in der Vergangenheit bereits zweimal hatte abwehren müssen. Beim zweiten und letzten Mal waren Sophies einzigartige Messerkünste vonnöten gewesen.
»Es heißt Miss Browning«, korrigierte sie ihn streng. »Du wirst dich bei Isabelle und bei mir entschuldigen.«
»Werde ich nicht. Sie ist nur ein Kind. Und sie sind mit einer Dienstbotin verwandt«, erwiderte Victor geringschätzig. »Dienstboten werden mit dem Vornamen angesprochen.«
Geduld, sagte sie sich, obwohl sie spürte, dass ihr diese besondere Tugend in erstaunlichem Tempo abhandenkam. »Ich bin mit einem Baron verwandt …«
»Einem Baron, den niemand kennt«, unterbrach er gehässig. »Mein Vater sagt, Sie seien bettelarm.«
Das ließ sich kaum leugnen, daher versuchte sie, darum herumzulavieren. »Ich bin außerdem älter als du und ein Gast …«
»Eine alte Jungfer, das sind Sie«, entgegnete Victor höhnisch grinsend. »Meine Mutter sagt, Sie wären zu reizlos und zu arm, um jemals einen Mann abzubekommen.«
Damit war ihre Geduld erschöpft. Sie beugte sich vor, bis ihr Gesicht sich dicht vor seinem befand, und bedachte ihn mit ihrem einschüchterndsten Blick – einem Ausdruck, den sie normalerweise für Gelegenheiten reservierte, bei denen sie aufgeblasenen Erwachsenen gegenübertrat, und außerdem für Whit.
»Um dich übers Knie zu legen, brauche ich weder Schönheit noch Geld. Manche Freuden gibt es umsonst.«
Sein Gesicht nahm eine Rotfärbung an, die sie, hätte sie sich in dem Moment auch nur einen Deut um seine Gesundheit geschert, womöglich alarmiert hätte. »Das würden Sie nicht wagen.«
»Wollen wir wetten? Ich könnte das Geld nämlich brauchen.«
»Ich bin erst dreizehn! Sie können nicht …«
»Oh doch, ich kann.« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Oder ich hole jemanden, der das für mich erledigt. Das wäre recht peinlich für dich, nicht wahr?«
Er kniff die Lippen zusammen und schwieg.
Sie richtete sich auf. »Schön. Soll ich dann nach dem Herzog von Rockeforte schicken lassen?«, fragte sie seelenruhig und beobachtete, wie seine Augen groß wurden bei dem Hinweis darauf, dass sie durchaus Verbindungen hatte.
»Oder soll ich ihn zu deiner Mutter schicken?«
»Es tut mir leid«, schnauzte er Isabelle an.
»Und?«, hakte sie nach.
»Es tut mir leid«, stieß er zähneknirschend in Mirabelles Richtung hervor.
»Entschuldigung angenommen. Und nun …«
»Aber es tut mir nicht annähernd so leid, wie es Ihnen noch leidtun wird«, zischte er und schoss durch den Flur davon.
Mirabelle sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwand. »Grässliches kleines Ungeheuer«, brummte sie. »Sein verschwenderischer Vater sollte ihm ein paar Manieren bezahlen.«
»Was ist denn hier los?«, erklang eine dritte Stimme. »Und wessen Vater ist ein Verschwender?«
Als sie sich umdrehte, kam Whit mit langen Schritten vom anderen Ende des Flurs auf sie zu. Allein schon bei seinem Anblick schlug ihr Herz ein wenig schneller.
»Welcher Vater ist das nicht, wenn man die jungen Männer so hört?«, lachte sie, als er vor ihr stand, und hoffte, ihre plötzliche Nervosität mit Humor überspielen zu können.
»Er hat sie beschimpft«, erklang eine leise Stimme. »Er war sehr ungezogen.«
Mirabelle drehte den Kopf und sah, dass Isabelle noch immer in der Ecke stand. Sie hatte das Kind ganz vergessen.
»Wer hat sie …?«, begann Whit.
»Isabelle«, unterbrach ihn Mirabelle. »Warum gehst du nicht mit Caro ins Kinderzimmer und machst ein Schläfchen?«
Sofort nahm das Gesicht des Mädchens einen bockigen Ausdruck an.
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