Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
Glück war es in der Bar so voll, dass an eine Spezialbehandlung gar nicht zu denken war. Mehr als ein schmachtender Blick beim Überreichen der Getränkekarte war diesmal nicht drin, und obendrein gab es noch einen warnenden in meine Richtung, der wohl bedeuten sollte, dass ein Superchecker wie Robbie Minderjährige auf Anhieb erkannte und ihnen selbst in Begleitung Erziehungsberechtigter niemals Alkohol ausschenken würde. Ich bestellte gar nichts, was ihn zu ärgern schien.
»Ich würde gern noch mal auf Gabors Frage zurückkommen, die er am Anfang des Abends gestellt hatte«, sagte Hannah, und als sie das fragende Gesicht meiner Mutter sah, fügte sie hinzu: »Was wir von unserem Vater halten.«
»Hannah, es ist schon spät«, sagte meine Mutter.
»Aber doch nicht für meine Kindheit«, entgegnete Hannah.
Die Geschichte von Hannah, ihrer Mutter und Joschi kenne ich gut, und ich finde, sie erklärt einem vieles, wenn man Hannah besser verstehen möchte. Gabor sah jedenfalls so aus, als würden ihm ein paar Erklärungen nicht schaden, und Hannah wirkte sehr entschlossen, sie ihm auch zu liefern. Ich sah mich um und stellte fest, dass ich diese Bar nicht mochte. Zu viele Menschen auf zu wenig Raum, dazu noch eine Klaviermusik im Hintergrund, die eher zu einer Wellness-Oase gepasst hätte. Mich wunderte, dass meine Mutter keinen Kommentar dazu abgab.
Trotz des großen Andrangs brachte Robbie innerhalb kürzester Zeit die Getränke an unseren Tisch und platzierte demonstrativ eine kleine Schale mit Nüssen vor meiner Nase, aus deren Mitte ein neongelber Lolli herausragte. Das war der Moment, in dem ich zu überlegen begann, ob ich die drei nicht lieber mit Hannahs Kindheit allein lassen sollte. Ich traf meine Entscheidung, noch bevor Robbie wieder die Bartheke erreicht hatte, wo er mit dem Ellenbogen gegen ein volles Cocktailglas stieß und es einer Dame mittleren Alters in den Schoß kippte. Es war die perfekte Szene für meinen Abgang. Ich sagte den anderen Gute Nacht und verschwand, so schnell ich konnte. Kinder dürfen so was.
6
IN DER NACHT TRÄUMTE ICH von meiner Großmutter Lotte. Wir saßen bei ihr zuhause am Küchentisch, und auf ihrem Schoß lag eine grau getigerte Katze, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, dabei kannte ich alle Katzen meiner Großmutter. »Joschi hat sie mitgebracht«, sagte sie und streichelte ihr zärtlich über das Fell. »Stell dir vor, jetzt hat er ein einziges Mal beim Pokern gewonnen, und dann ausgerechnet eine Katze. Wo wir doch schon so viele haben.« Ich mochte die Katze nicht, sie war mir zu groß und zu fett, und ich fragte: »Wo ist Opa?« und meinte damit Karl. »Opa?«, wiederholte Lotte. »Jetzt schau doch erst mal im Kühlschrank nach, was ich heute Schönes für dich habe.« Das war eine ihrer Standard-Eröffnungen gewesen, und ich liebte die Überraschungen, die dort auf mich warteten: Puddings, Sahnedesserts, Milchreis, lauter Sachen eben, die bei Großeltern im Kühlschrank stehen und nie bei einem zuhause. Ich öffnete begeistert die Tür, aber im Kühlschrank war keine leckere Nachspeise, sondern Joschi. Er war nicht viel größer als die Katze auf Lottes Schoß. Er trug ein rotes Hemd und sah mich vorwurfsvoll an, aber er sagte kein Wort.
»Höchste Zeit, dass du deinen Großvater endlich kennenlernst«, rief mir Lotte vom Küchentisch zu. »Ich habe ihn die ganze Zeit für dich aufgehoben.« Dann muss sie ihn aber schon lange vor meiner Geburt dort reingetan haben, dachte ich, und dann bekam ich plötzlich eine Wahnsinnsangst, dass dieser kleine Joschi seinen Mund aufmachen und etwas zu mir sagen würde, womöglich mit Piepsstimme, also knallte ich die Kühlschranktür wieder zu. »Warum tust du das?«, fragte meine Großmutter erstaunt. »Dein Großvater möchte doch mit dir sprechen.« Genau das wollte ich aber nicht, und ich rannte zur Tür hinaus nach draußen, ich rannte an meiner Mutter vorbei, die mit meinem Vater und Gabor im Vorgarten ein Loch aushub (»Für Joschi!«, rief sie mir aufgeregt hinterher), ich rannte an meinem Opa vorbei, der mir auf dem Fahrrad entgegenkam und ebenfalls ein rotes Hemd trug, ich rannte und rannte und rannte, bis ich endlich aufwachte.
Nicht gerade ein Traum, der einem Kraft für einen Besuch im ehemaligen Konzentrationslager gab, fand ich. Aber wie hätte der schon aussehen sollen? Ich hatte keine Ahnung, was mich in Buchenwald erwarten würde, aber ich befürchtete, dass ich mit meinem Traum noch ganz gut
Weitere Kostenlose Bücher