Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
verrückt«, sagte meine Mutter nach einer Weile. »Aber jetzt, wo ich endlich hier bin, kann ich auch meinen Frieden mit diesem Ort machen. Ich kann zumindest mal damit anfangen. Verstehst du, was ich meine?«
Ich musste an die steinernen Sätze denken. »Komm, ich zeige dir noch was anderes«, sagte ich und nahm ihre Hand. Wir machten kehrt.
Rechts von uns tauchte das 68er-Pärchen auf dem gepflasterten Weg auf, der zur Gedenkstätte des kleinen Lagers führte. Der Mann lief vorweg, die Frau ein paar Schritte hinter ihm. Sie sagte: »Also, ich bin jetzt lange genug in der Kälte rumgerannt, Wolfgang. Lass uns doch mal irgendwo reingehen. Wir haben uns das Krematorium noch nicht angesehen, da ist es sicher wärmer als hier draußen.«
Wolfgangs Antwort blieb irgendwo in seinem Vollbart hängen. Wir sahen uns an. Im Gesicht meiner Mutter spiegelte sich meine eigene Fassungslosigkeit, und dann platzte es förmlich aus ihr heraus, und sie lachte und lachte, bis ihr die Tränen herunterliefen. Sie gab sich keine Mühe, sie abzuwischen. Kein Zweifel, es waren ihre eigenen.
9
ZWEI DINGE FIELEN MIR AUF , nachdem wir den Parkplatz hinter uns gelassen hatten und wieder auf der Blutstraße Richtung Weimar fuhren. Das erste war, dass ich nach »Archiv!!!« kein weiteres Wort mehr in mein Notizbuch eingetragen hatte. Ich würde mich also auf mein Gedächtnis und den Stapel Broschüren aus der Besucherinformation verlassen müssen. Das war sicherlich machbar, aber auch ein wenig beschämend, zumal meine Versuche, die Inschrift am Lagertor mit dem Handy zu fotografieren, auch nichts Brauchbares ergeben hatten, weil ständig irgendwelche Leute rein und rausgelaufen waren. Prompt drehte sich meine Mutter, die speziell für solche Anlässe mit hochempfindlichen Sensoren ausgestattet ist, zu mir um und fragte: »Hast du eigentlich genug Material für dein Referat gesammelt?« Da fiel mir die zweite Sache auf: Meine Mutter sah zufrieden aus, genauer gesagt, sie sah aus wie eine, die gerade einen richtig fetten Drachen erlegt hatte. Einen von der Sorte, die schon seit Ewigkeiten im Weg rumliegt und aus dem Maul stinkt. Kein Zweifel, dass es der war, der immer das Eingangstor von Buchenwald bewacht hatte.
»Ich hab total vergessen, mir Notizen zu machen.« Wenn sie schon Drachen tötete, musste ich wenigstens zu meiner Inkompetenz stehen. »Aber ich werd’s auch so zusammenkriegen.«
»Klar wirst du das«, sagte Hannah und suchte im Rückspiegel nach meinem Gesicht. »Deine eigene Erfahrung zählt. Fang einfach mit der Geschichte über deinen Großvater an.«
»Aaach«, machte Gabor. Es klang unendlich genervt. Ihn auf dem Gelände wiederzufinden war keine Mühe gewesen; er hatte rauchend auf dem Parkplatz gestanden, als wäre er niemals von dort weggegangen. Ich hätte darauf gewettet, wenn ich es nicht besser gewusst hätte. In der halben Stunde, die wir noch auf Hannah warten mussten, war Gabor abweisend und verschlossen gewesen, und ich hatte es gar nicht erst riskiert, ihn anzusprechen. Stattdessen hatte ich meinen Vater angerufen und ihm vor lauter Begeisterung, dass meine Mutter »Grüß ihn von mir« gerufen hatte, eine etwas blödsinnige Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen, die ihm beim Abhören sicher zu denken geben würde.
Wir erreichten die Abzweigung nach Weimar. Am Ende – oder vielmehr am Anfang – der Blutstraße stand mahnend ein Obelisk aus rötlichem Stein, den ich auf der Hinfahrt übersehen hatte. Er schien noch aus DDR-Zeiten zu stammen und sah aus wie ein schmutziger Finger, der sich wichtigmachen wollte.
»Was haltet ihr von einem Kaffee?« Hannah war Gabors Kommentar nicht entgangen, das konnte ich an ihrer gerunzelten Stirn im Rückspiegel sehen, aber sie wollte offenbar die Diskussion von vorhin nicht wieder aufleben lassen, jedenfalls nicht in ihrem Auto. Meine Mutter hatte noch nie im Leben jemandem einen Kaffee abgeschlagen, das wusste Hannah, und ich wurde ihr in dieser Hinsicht immer ähnlicher, das wusste Hannah auch, aber ich sagte trotzdem »Ja, klasse«, damit überhaupt jemand etwas sagte. Gabors Antwort kam Stunden später und war wieder mehr ein Laut als eine klare Ansage. Ich hörte »okay« heraus und Hannah offensichtlich auch, denn sie bog kurz entschlossen statt nach Weimar in die entgegengesetzte Richtung ab. Unsere Reise endete zehn Minuten und drei Ortschaften später bei »Anni’s Kaffeestube«.
»Anni ist übrigens Peggys Schwester, falls du das noch nicht
Weitere Kostenlose Bücher