Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
die Straße. »Wir rennen dieses entsetzliche Lager rauf und runter, und hinterher erzählst du mir, das Schlimmste, was dir passieren könnte, wäre, dass unser Vater gar kein Jude und womöglich gar nicht dort war?«
Hannah antwortete nicht. Stattdessen meldete sich ihr Handy, diesmal per Klingelton. Es war weder Filmmusik noch die israelische Nationalhymne, es klang eher wie Husten. Hannah schaltete das Telefon aus, ohne auch nur einen Blick auf das Display zu werfen. Es war das erste Mal, dass ich sie so etwas tun sah. Die Lage war offenbar ernst.
»Ich bleibe dabei«, sagte sie. »Ich rede nicht von Krieg oder Gewalt, ich rede von meinem persönlichen Supergau. Ich rede von meiner Identität. Jeder hat eine. Hoffe ich zumindest. Meine ist die, dass ich die Tochter eines Juden bin und zu diesem Volk gehöre, auch wenn ich die Aufnahmebedingungen nicht erfülle. Ich finde diese Kriterien sehr willkürlich gewählt, und deswegen können sie mich auch nicht überzeugen.«
»Das interessiert aber niemand von denen«, sagte meine Mutter. »Es sei denn, du konvertierst. Aber dafür warst du immer zu zickig.«
»Ich bin nicht zickig, ich bin Atheistin«, sagte Hannah. »Bevor ich mich hinstelle und aus dem Talmud zitiere, falle ich lieber tot um. So wie viele andere Juden hierzulande und anderswo. Verdammt, es geht mir nicht um die Religion. Es geht mir um die Menschen.«
»Wenn du aus der Sicht der Juden keine Jüdin bist, und es stellt sich heraus, dass dein Vater auch kein Jude war, hat sich an deiner Situation überhaupt nichts verändert.« Meine Mutter operierte jetzt in einem Modus, der mich nur dann faszinierte, wenn ich nicht selbst mitten in ihrem Fadenkreuz stand. »Wo ist bitte das Problem?«
»Das Problem bin ich«, sagte Hannah. Sie ging zur Minibar, sah angewidert hinein und warf die Tür mit einem Knall wieder zu. »Sollten wir nicht langsam mal nach unten gehen?«
»Gleich«, sagte meine Mutter. »Ich will wissen, wie du das mit deiner Identität meinst. Du bist doch noch viel mehr als die Tochter eines jüdischen Vaters.«
»Was denn noch?« Hannah stemmte die Arme in die Hüften und sah meine Mutter angriffslustig an. »Die Tochter einer sitzengelassenen katholischen Krankenschwester? Die versierte Buchhändlerin, die sich auf jüdische Literatur spezialisiert hat? Jewish-Dating-Club-Mitglied, Vermittlungsquote bisher null Prozent?«
»Warum nicht? Warum wählst du aus allen vorhandenen Möglichkeiten diese eine, wenn sie dir sowieso nichts bringt?«
»Sie bringt mir eine ganze Menge, Marika«, sagte Hannah. »Außerdem hatte ich genug Zeit, mich daran zu gewöhnen. Während du mit Joschi Bären gezeichnet hast, habe ich kleine gelbe Sterne geknetet. Bei dir zuhause hingen einfach nur zwei tote Kinder an der Wand, in meinen Fotobänden waren es Hunderte, und ich kenne heute noch alle ihre Gesichter. Meine Leute. Wenn das alles eine Lüge gewesen wäre, das wäre das Schlimmste für mich.«
»Es war aber nicht Joschi, der dich als Jüdin aufgebaut hat.«
»Nein, das war meine Mutter«, sagte Hannah. »Und du wirst lachen, ich kann das heute sogar verstehen. Sie konnte mir keine Familie bieten, aber immerhin so was wie Zugehörigkeit.«
»Zugehörigkeit? Sie hat dir aus Joschis Lebenstragödie einen Riesenfetisch gebastelt, würde ich sagen.«
Es war wie beim Tennis. Mein Kopf wanderte zwischen den beiden hin und her, und ich dachte bei jedem Satz aufs Neue, ja, so ist es.
»Einen Riesenfetisch? Meinst du einen großen beschnittenen Pimmel ohne Vorhaut? Ach, warum eigentlich nicht«, sagte Hannah.
Ich spürte die Stirnfalte meiner Mutter mehr, als dass ich sie sehen konnte, und deshalb warf ich schnell ein: »Ich weiß, was ein Pimmel ist, Mami.«
»Nein, Hannah, das meinte ich nicht«, sagte meine Mutter und rutschte vom Balkongeländer zurück auf den Boden. »Ich meinte diese elenden Mythen, die sich um Joschi, das Opfer, ranken. Seien wir doch mal ehrlich: Was wären denn die Story von Gabor, die Geschichte mit deiner Mutter oder Joschis missglückter Selbstmordversuch ohne den Beigeschmack von Holocaust? Lauter miese, kleine Begebenheiten. Alltägliches menschliches Versagen. Auch Joschi war weit mehr als nur der Jude, der seine Frau und seine Kinder verloren hatte. Er war ein erfolgloser Zocker, der keinen Bock auf Arbeit oder Karriere hatte. Er war ein Aufschneider und hatte einen Wahnsinnserfolg bei Frauen, obwohl er gar nicht so überwältigend aussah. Wenn keine Katastrophen
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