Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
mussten. Ich kam auf eine Reihe aus Literflaschen, die fast vierzig Meter lang war.
»Moment mal«, sagte Hannah. »Ich bin bei Krankheiten immer etwas schwer von Begriff. Du sagst, Joschi und Louise hätten beide das gleiche defekte Gen gehabt?«
»Das ist gar nicht so exotisch, wie es sich anhört«, sagte Gabor.
»Meinst du, Joschi hat davon gewusst?«
»Wohl kaum«, sagte Gabor. »Oder dachtest du, hier wäre endlich die Erklärung dafür, warum er sich für jedes seiner Kinder eine neue Frau gesucht hat?«
»Quatsch«, sagte Hannah, aber sie wirkte ein bisschen verlegen.
»Es klingt dramatischer, als es in Wirklichkeit ist.« Gabor nahm die Wasserflasche und schenkte sich nach. »Die Gelenkschmerzen sind das größte Problem. Meine Leber hat sich zum Glück wieder erholt. Die einzige wirksame Therapie bei dieser Krankheit ist der regelmäßige Aderlass. Zweimal im Monat beim Blutabnehmen an die unglückliche Liaison meiner Eltern erinnert zu werden lässt sich aushalten. Wenn ich das nicht vergesse, ist meine Lebenserwartung genauso hoch wie bei jedem anderen Kettenraucher.«
Hannah sah Gabor eine Weile an, und dann nickte sie. »Alles klar. Tut mir leid, falls du das als Übergriff empfunden hast«, sagte sie. »Für mich hat das eine zwar nichts mit dem anderen zu tun, aber ich verstehe jetzt, dass man dich nicht für Gentests begeistern kann. Also gut, dann lassen wir das.«
Ich stellte mir Gabor mit einer Kanüle im Arm auf einer Krankenhausliege vor, wie er seinem Blut beim Herausfließen zusah und dabei über Joschi und Louise nachdachte. Dann fiel mir Joschis Behauptung mit dem blauen Blut in seinen Adern wieder ein. Ich weiß nicht, warum, aber es machte mich traurig.
»Danke für dein Verständnis«, sagte Gabor.
Wir schwiegen und aßen und tranken weiter, aber es war keine unfreundliche Stille. Meine Mutter ging irgendwann ins Bad und kam sofort wieder hinausgeschossen und sagte, das Bad sei unbenutzbar, und Edgars Lilien wären ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Hannah blieb völlig cool und sagte nur, sie freue sich schon sehr darauf, Edgar demnächst meiner Mutter persönlich vorzustellen, und sie solle sich schon mal auf sein Aftershave gefasst machen. Gabor ging zum Balkon und beugte sich weit über die Brüstung und rauchte eine Zigarette. Ich ging mit und stellte mich neben ihn, weil ich nach dem Wetter sehen und etwas von Gabor wissen wollte. Immerhin, es regnete nicht.
»Nein«, sagte Gabor auf meine Frage. »Ich habe keine Familie. Ich wollte auch nie eine haben.«
»Was redet ihr da draußen?«, rief meine Mutter.
»Ich habe eigentlich nur meine Plattensammlung«, sagte Gabor zufrieden, fast zärtlich. »Wenn ich so jung wäre wie du, hätte ich wahrscheinlich auch immer meinen Walkman dabei. Obwohl ich eigentlich finde, man soll Musik nicht mitnehmen, man soll zu ihr hingehen.«
Er sagte tatsächlich Walkman, aber der richtige Ausdruck hätte auch gar nicht zu ihm gepasst. Da war er endlich, der Alt-68er. Wahrscheinlich gehörte er zu diesen Freaks, in deren Wohnung sich nichts als ein High-End-Verstärker mit einem Plattenspieler befand, den keine fremde Hand jemals berühren durfte, Seite an Seite mit gigantischen Lautsprecherboxen, aus denen armdicke Kupferkabel wuchsen.
»Vielleicht besuch ich dich mal«, sagte ich und war entsetzt über meine blöde Anmache, aber Gabor nickte nur heftig und warf seine Zigarettenkippe mit exakt dem gleichen Schwung über Bord wie meine Mutter eine Weile zuvor.
»Ich hätte da mal eine Frage an euch«, sagte Gabor, als wir wieder in Hannahs Zimmer saßen. »Es gibt eine Geschichte, über die Louise immer nur seltsame Andeutungen machte, aber nie wirklich damit rausrückte. Was ich mir daraus zurechtgereimt habe, war, dass Joschi kurz vor Marikas Geburt einen schweren Unfall hatte. Wisst ihr was Näheres darüber?«
»Unfall ist gut«, sagte Hannah und machte sich daran, die zweite Weinflasche zu öffnen.
»Ist das dein Ernst?«, fragte meine Mutter. »Du kennst diese Geschichte nicht? Es ist eine der besten und dazu noch zu achtzig Prozent wahr.«
»Fünfundachtzig«, korrigierte Hannah.
»Joschi und Lotte führten bis zu meiner Geburt eine Wochenendbeziehung«, sagte meine Mutter. »Sie waren schon seit zwei Jahren verheiratet, aber irgendwie war eine gemeinsame Wohnung bis zu diesem Zeitpunkt nicht drin. Ungefähr vier Wochen vor dem Geburtstermin bekam Lotte einen Brief von Joschi. Es war ein Abschiedsbrief. Er
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