Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
passierten, die ihm seine Beziehungen zerstörten, besorgte er es selber. Wir wissen nicht, ob er für Tamás und Véra ein toller Vater war. Wir wissen nicht mal, ob er überhaupt noch mit seiner Frau zusammen war, als sie 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Nichts wissen wir, gar nichts. Wir haben noch nicht mal Lügengeschichten aus dieser Zeit.«
»Überrascht dich das?«, fragte Hannah. »Du musst dich irgendwann mal damit abfinden, dass es keine weiteren Informationen mehr gibt, basta. Ab dann zählt, wofür du dich entscheidest. Ich für meinen Teil habe mich entschieden.«
»Schön für dich«, sagte meine Mutter und ließ sich auf Hannahs Bett fallen. »Ich habe mich nämlich noch lange nicht entschieden. Und deshalb lassen mich diese Spekulationen, ob Joschi womöglich gar kein Jude war, auch ziemlich kalt. Was für eine tolle Geschichte das wäre! Joschi und Louise sitzen zusammen am Küchentisch. Mensch, Joschi, sagt Louise, das ist doch mal ’ne echte Chance, an eine Entschädigung ranzukommen. Du warst doch Zwangsarbeiter und im KZ. Deine Frau und deine Kinder sind doch wirklich in Auschwitz umgekommen. Los, wir sagen denen jetzt, dass du Jude bist, wie sollen die das denn überprüfen, deine Papiere sind doch sowieso alle weg.«
Es sah für mich ganz danach aus, als würden Holmes und Watson zum ersten Mal in ihrer gemeinsamen Geschichte nicht miteinander, sondern gegeneinander ermitteln.
»Warum fängst du schon wieder damit an?«, fragte Hannah. »Tolle Geschichte, pah. Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, dass wir ihm so eine zynische Strategie nicht zutrauen. Und komm bitte von meinen Handtüchern runter.«
»Unser Vater war kein Stratege, genauso wenig wie du und ich, Hannah. Der hätte sich nicht mit Kalkül in so eine Lügengeschichte geworfen, sondern nur aus dem Moment heraus. ›Ist Scheiße genug mir passiert, sollen zahlen für Schmerzen. Sag ich bin ich Jude.‹ Irgend so was in der Art. Und das«, sagte meine Mutter und zerrte Hannahs Handtücher unter sich hervor, »könnte ich ihm irgendwie nicht mal übel nehmen.«
Ich liebte sie sehr in diesem Augenblick, meine komische Mutter, die großartige Dinge sagen und gleichzeitig seltsame Handlungen ausführen konnte.
»Außerdem sehe ich das nicht so, dass wir uns irgendwann mal entscheiden müssen«, fuhr sie fort. »Ich glaube eher, dass wir endlich mal akzeptieren sollten, dass es so oder so gewesen sein könnte. Und damit unseren Frieden finden.«
»Amen«, sagte Hannah. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie sonderlich beeindruckt war.
»Warum hast du dich eigentlich nie selbst in Buchenwald erkundigt, ob sie in ihrem Archiv Unterlagen über Joschi haben?«, fragte ich sie. »Du warst doch vorher schon mal dort, und sie geben doch jedem Auskunft, oder?«
Hannah starrte mich eine Weile an, bevor sie antwortete. »Ich habe nie in Frage gestellt, dass er da war«, sagte sie dann. »Was habe ich denn von so einer traurigen Liste, auf der sein Name auftaucht? Ich kenne die Dokumente, die in Marikas Besitz sind, aber nicht einmal die haben mich besonders interessiert. Und bei meinem ersten Besuch in Buchenwald hatte ich genug damit zu tun, diese ganze Ungeheuerlichkeit zu erfassen: dass es so einen Ort überhaupt mal gegeben hat, weniger als zehn Kilometer von hier entfernt.«
»Nach der Befreiung haben die Amerikaner die Einwohner von Weimar ins Lager geschickt, damit sie sich ansehen, was da jahrelang vor ihrer Haustür passiert ist.« Wenigstens konnte ich ein bisschen Broschürenwissen beisteuern.
»Ja«, sagte Hannah. »Ich habe Fotos von diesen Begehungen gesehen. Manche der Besucher sehen recht mitgenommen aus, aber auf viel zu vielen Gesichtern steht immer noch die Frage: Und was habe ICH damit zu tun?«
»Gibt es eigentlich Gesichter auf alten Fotos, die du dir nicht gemerkt hast?«, fragte meine Mutter.
»Nein«, sagte Hannah, und in ihrer Stimme lag kein Hauch von Zweifel.
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Es war ein leises und zaghaftes Klopfen, aber wir schreckten trotzdem zusammen.
»Scheiße, es ist zehn vor neun«, sagte meine Mutter und sprang vom Bett auf. »Wir waren um acht unten in der Eingangshalle verabredet.«
»Ich mach auf«, sagte ich und ging zur Tür.
Es war natürlich Gabor. Er trug in jeder Hand eine volle Papiertüte und sah ein bisschen gestresst aus.
»Ich hab eingekauft«, sagte er. »Ich dachte, von euch hat wahrscheinlich auch keiner Lust, den Abend wieder in einer Kneipe
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