Ein Fall für Kay Scarpetta
Marino sagen. Ich erinnerte Fortosis: "Du hast deine Meinung geändert. Ursprünglich hast du angenommen, daß er eine kriminelle oder psychiatrische Vergangenheit haben könnte, vielleicht auch beides. Jemand, der gerade aus einer psychiatrischen Klinik oder einem Gefängnis entlassen wurde -"
Er unterbrach mich. "Diese letzten beiden Morde, vor allem, wenn Abby Turnbull eine Rolle spielt, lassen die Sache in einem anderen Licht erscheinen. Psychotische Täter haben nur sehr selten, wenn überhaupt, das Zeug dazu, der Polizei immer wieder zu entkommen. Ich bin der Meinung, daß der Mörder in Richmond Erfahrung hat, wahrscheinlich bereits seit Jahren in anderen Orten gemordet hat und in der Vergangenheit genauso erfolgreich einer Verhaftung entkommen ist wie jetzt."
"Du denkst, er geht an einen anderen Ort, mordet dort ein paar Monate lang und zieht dann weiter?"
"Nicht unbedingt", antwortete er. "Er kann sich so weit unter Kontrolle haben, daß er an einen neuen Ort zieht und sich in seinen neuen Job einarbeitet. Es ist möglich, daß er eine ganze Weile lang normal lebt, bis er wieder anfängt. Wenn er mal anfängt, dann kann er nicht mehr aufhören. Und mit jedem neuen Territorium braucht er mehr, um Befriedigung zu bekommen. Er wird immer dreister, immer unkontrollierter. Er macht sich über die Polizei lustig und genießt es, die Stadt in Angst und Schrecken zu versetzen, das heißt durch die Presse - und möglicherweise durch die Wahl seiner Opfer."
"Abby", murmelte ich. "Wenn er wirklich hinter ihr her war."
Er nickte. "Das war neu, der dreisteste und skrupelloseste Mord, den er je durchgeführt hat - sofern er geplant hatte, eine allgemein bekannte Polizeireporterin zu töten. Es wäre sein Meisterwerk gewesen. Da könnten auch noch andere Dinge mit hineinspielen, Phantasien von Beziehungen oder Projektionen. Abby schreibt über ihn, und er denkt, er hat etwas Persönliches mit ihr. Er entwickelt eine Beziehung zu ihr. Seine Wut und seine Phantasien richten sich gegen sie."
"Aber er hat es vermasselt", erwiderte ich wütend. "Sein sogenanntes Meisterwerk, und er hat es vermasselt."
"Genau. Es ist möglich, daß er Abby nicht gut genug kannte, um zu wissen, wie sie aussieht, um zu wissen, daß ihre Schwester letzten Herbst zu ihr gezogen ist." Seine Augen blieben ausdruckslos, als er hinzufügte: "Es ist sehr gut möglich, daß er bis zu dem Zeitpunkt, als er die Nachrichten gesehen oder die Zeitung gelesen hat, gar nicht wußte, daß die Frau, die er ermordet hat, gar nicht Abby war."
Dieser Gedanke überraschte mich. Daran hatte ich noch nicht gedacht.
"Und das macht mir ziemliche Sorgen." Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
"Was? Er könnte es noch einmal bei ihr versuchen?" Ich hatte ernsthafte Zweifel daran.
"Es macht mir Sorgen." Er schien jetzt seine Gedanken laut auszusprechen. "Es hat nicht so funktioniert, wie er es geplant hatte. Vor sich selbst steht er jetzt als Versager da. das kann nur dazu führen, ihn noch grausamer werden zu lassen."
"Was muß er noch tun, damit man ihn als >noch grausamer< einstufen kann?" platzte ich heraus. "Du weißt, was er mit Lori gemacht hat. Und jetzt Henna ... "
Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ mich innehalten.
"Ich habe Marino angerufen, kurz bevor du gekommen bist, Kay."
Fortosis wußte es. Fortosis wußte, daß Henna Yarboroughs Vaginalabstriche negativ waren.
Der Mörder hatte wahrscheinlich daneben ejakuliert. Die meiste Samenflüssigkeit, die ich fand, war auf den Bettdecken und ihren Beinen. Das einzige Instrument, das er erfolgreich eingeführt hatte, war sein Messer. Die Tücher unter ihr waren steif und dunkel von getrocknetem Blut gewesen. Hätte er sie nicht erdrosselt, so wäre sie wahrscheinlich verblutet.
Wir saßen in bedrückender Stille mit der schrecklichen Vorstellung von einem Menschen, der Gefallen daran finden konnte, einem anderen Menschen solche furchtbaren Schmerzen zuzufügen. Als ich Fortosis ansah, waren seine Augen trübe, sein Gesicht erschöpft. Ich glaube, es war das erste Mal, daß er älter wirkte, als er war. Er konnte hören, er konnte sehen, was mit Henna geschehen war. Er sah diese Dinge noch lebhafter als ich. Das Zimmer erdrückte uns.
Wir standen gleichzeitig auf.
Ich machte einen Umweg, um zu meinem Auto zu kommen, und schlenderte über den Campus, anstatt direkt über die kleine Straße zum Parkplatz zu gehen. In der Ferne lagen die Blue Ridge Mountains wie ein verschwommenes Eismeer, die
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