Ein Fall für Kay Scarpetta
Millionen.
Die DNS ist der Mikrokosmos eines Menschen, der Code seines Lebens. Gentechniker in einem privaten Labor in New York hatten die DNS aus den Proben der Samenflüssigkeit isoliert, die ich ihnen geschickt hatte. Sie zerschnitten das gewonnene Material an bestimmten Stellen, und die Fragmente wanderten in verschiedene Regionen einer elektrisch geladenen Fläche, die mit einem dicken Gel beschichtet war. Auf der einen Seite der Fläche war ein positiv geladener Pol, auf der anderen ein negativ geladener. Diese DNS trägt eine negative Ladung", fuhr ich fort. "Gegensätze ziehen sich an. Die kürzeren Fragmente bewegen sich schneller und weiter in Richtung auf den positiven Pol als die längeren, und die Fragmente breiten sich in dem Gel aus und bilden das Streifenmuster. Dieses wird auf eine Nylonmembran gebracht und einer Färbung unterzogen."
"Ich verstehe nicht", unterbrach Abby. "Was für eine Färbung?"
Ich erklärte. "Die Doppelstrang-DNS-Fragmente des Mörders wurden zu einzelnen Strängen aufgebrochen oder denaturiert. Einfacher ausgedrückt, sie wurden wie ein Reißverschluß geöffnet. Die Färbung ist eine Lösung aus einfacher DNS einer spezifischen Basensequenz, die mit einer radioaktiven Substanz gekennzeichnet ist. Wenn die Lösung oder Färbung über die Nylonmembran geschüttet wird, sucht die markierte DNS sich die komplementären Einzelstränge und verbindet sich mit ihnen - mit den komplementären Einzelsträngen des Mörders."
"Der Reißverschluß wird also wieder zugezogen?" fragte sie. "Ist jetzt aber radioaktiv?"
"Der Punkt ist, daß das Muster so auf einem Röntgenfilm sichtbar gemacht werden kann", antwortete ich.
"Ja, sein Code. Zu schade, daß es kein Gerät gibt, das uns daraus seinen Namen abliest", fügte Wesley trocken hinzu.
"Dort sind alle Informationen über ihn enthalten", fuhr ich fort. "Das Problem ist, daß die Technologie noch nicht so weit fortgeschritten ist, daß sie Charaktermerkmale daraus erkennen kann, wie zum Beispiel genetische Defekte, Augen- und Haarfarbe und solche Dinge. Es gibt so viele Streifen, und die decken so viele Einzelheiten der genetischen Zusammensetzung eines Menschen ab, daß es einfach zu komplex ist; man kann nur sagen, ob sie übereinstimmen oder nicht."
"Aber das weiß der Mörder nicht." Wesley sah mich grüblerisch an.
"Genau."
"Es sei denn, er ist ein Wissenschaftler oder so was", warf Abby ein.
"Wir nehmen einfach an, daß er keiner ist", sagte ich. "Ich vermute, daß er noch nie von der DNS-Untersuchung gehört hat, bevor er es in der Zeitung las. Ich bezweifle, daß er das Konzept richtig versteht."
"Ich werde die Vorgehensweise in meinem Bericht erklären." Abby überlegte laut. "Ich werde ihn genau so viel verstehen lassen, daß es ihn unsicher macht"
"Er soll gerade so viel verstehen, daß er denkt, wir wissen über seinen Defekt Bescheid", stimmte Wesley zu. "Wenn er einen Defekt hat... das macht mir ein wenig Sorgen, Kay." Er sah mich geradeheraus an. "Was, wenn er keinen hat?"
Ich ging es geduldig noch einmal durch. "Ich denke da immer noch an Matt Petersens Erwähnung von >Pfannkuchen< von einem Geruch in dem Schlafzimmer, der ihn an Pfannkuchen erinnerte, süßlich, aber auch schweißig."
"Ahornsirup", erinnerte sich Wesley.
"Ja. Wenn der Mörder einen Körpergeruch hat, der an Ahornsirup denken läßt, dann könnte er eine Krankheit haben, irgendeine Stoffwechselkrankheit. Oder genauer, die >Ahornsirupkrankheit<."
"Und das ist etwas Genetisches?" Wesley fragte das zweimal.
"Das ist ja das Schöne daran, Benton. Wenn er es hat, dann ist es irgendwo in seiner DNS erkennbar."
"Davon habe ich noch nie etwas gehört", sagte Abby. "Von dieser Krankheit."
"Na ja, es ist nicht gerade so was wie ein Schnupfen."
"Was genau ist es denn?"
Ich stand von meinem Schreibtisch auf und ging zu einem Bücherregal. Ich nahm das dicke Handbuch der Inneren Medizin heraus, schlug die entsprechende Seite auf und legte es vor sie hin. "Es ist ein Enzymdefekt", erklärte ich. "Das Fehlen dieses Enzyms führt dazu, daß sich Aminosäuren im Körper anhäufen wie ein Gift. In der klassischen oder akuten Form führt diese Krankheit zu schwerer geistiger Retardierung und/oder Tod in der Kindheit, was der Grund dafür ist, daß man selten gesunde Erwachsene mit normalem Verstand findet, die an dieser Krankheit leiden. Aber es ist möglich. Bei der schwächeren Form, die diejenige sein muß, unter der der Mörder leidet, ist die
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