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Ein Fall für Kay Scarpetta

Ein Fall für Kay Scarpetta

Titel: Ein Fall für Kay Scarpetta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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solches Zeugs über Leute, die ermordet werden. Letzte Woche fand man einen Mann im Kanal, und sein Kopf war abgeschnitten. Er muß ein schlechter Mann gewesen sein, daß jemand seinen Kopf abgeschnitten hat."
    "Das war er vielleicht, Lucy. Aber das rechtfertigt nicht, daß man so etwas mit ihm tut. Und nicht jeder, der ermordet wird, ist schlecht."
    "Mutti sagt, sie sind es. Sie sagt, gute Menschen werden nicht ermordet. Nur Betrüger und Drogenhändler und Diebe." Eine Gedankenpause. "Manchmal auch Polizisten, die aber, weil sie versuchen, schlechte Leute zu fangen."
    Dorothy würde so etwas sagen, und was noch schlimmer war, sie glaubte es auch. Die alte Wut flammte in mir auf.
    "Aber die Frau, die erwürgt wurde", sagte Lucy zitternd, ihre Augen so weit, daß sie mich zu verschlingen schienen, "sie war Ärztin, Tante Kay. Wie kann sie schlecht gewesen sein? Du bist auch Ärztin. Sie war also genau wie du."
    Ich wurde mir plötzlich der Uhrzeit bewußt. Es war spät. Ich schaltete den Computer aus, ergriff Lucys Hand, und wir gingen aus dem Arbeitszimmer in die Küche. Als ich mich zu ihr drehte, um ihr einen Imbiß vorzuschlagen, war ich bestürzt, als ich sah, daß sie sich auf die Unterlippe biß und ihre Augen feucht wurden. "Lucy! Warum weinst du?"
    Sie fiel mir um den Hals, schluchzend. Sie klammerte sich in wilder Hoffnungslosigkeit an mich und schrie: "Ich will nicht, daß du stirbst, Tante Kay!"
    "Lucy ..." Ich war erstaunt, entsetzt. Ihre Wutanfälle, ihre arroganten und zornigen Ausbrüche, das war eine Sache. Aber jetzt! Ich konnte fühlen, wie ihre Tränen meine Bluse durchdrangen. Ich konnte die heiße Intensität ihres kleinen Körpers spüren, als sie sich an mich preßte.
    "Es ist gut, Lucy", war das einzige, was mir einfiel, und ich drückte sie fest an mich.
    "Ich will nicht, daß du stirbst, Tante Kay!"
    "Ich werde nicht sterben, Lucy."
    "Daddy ist gestorben."
    "Mir wird nichts geschehen, Lucy."
    Sie war nicht zu beruhigen. Die Geschichte in der Zeitung berührte sie tief. Sie las sie mit dem Intellekt eines Erwachsenen, der noch mit der ängstlichen Vorstellungskraft eines Kindes behaftet ist. Dazu kamen ihre Unsicherheiten und bereits erlittenen Verluste.
    O Gott! Ich suchte verzweifelt nach einer passenden Antwort und konnte keine finden. Die Beschuldigungen meiner Mutter fingen an, irgendwo tief in meiner Seele zu hämmern. Meine Unzulänglichkeiten. Ich hatte keine Kinder. Ich wäre eine schreckliche Mutter gewesen. "Du hättest ein Mann werden sollen", hatte meine Mutter in einer unserer weniger angenehmen Begegnungen der letzten Zeit gesagt. "Nur Arbeit und Ehrgeiz. Das paßt nicht zu einer Frau. Du wirst austrocknen wie ein Kartoffelkäfer, Kay."
    Und in meinen einsamen Augenblicken, wenn ich mich am schlechtesten fühlte, erinnerte ich mich garantiert an eine dieser leeren Käferhüllen, die einst im Garten meines Zuhauses in der Kindheit verstreut lagen. Durchsichtig, spröde, ausgetrocknet. Tot. Es war nicht unbedingt üblich bei mir, einer Zehnjährigen ein Glas Wein einzuschenken.
    Ich brachte sie in ihr Zimmer, und wir tranken, auf dem Bett sitzend, den Wein. Sie fragte mich lauter Dinge, auf die ich keine Antwort wußte.
    "Warum tun Menschen anderen Menschen weh?" und "Ist es ein Spiel für ihn? Ich meine, macht er es zum Spaß, so wie MTV? Im MTV machen sie solche Sachen, aber sie tun nur so. Niemand wird verletzt. Vielleicht will er ihnen nicht weh tun, Tante Kay?"
    "Es gibt Menschen, die böse sind", antwortete ich ruhig. "Wie Hunde, Lucy. Manche Hunde beißen ohne Grund. Irgend etwas stimmt nicht mit ihnen. Sie sind aggressiv und werden immer so bleiben."
    "Weil die Menschen vorher gemein zu ihnen waren. Deshalb werden sie böse."
    "Manchmal ja", sagte ich. "Aber nicht immer. Manchmal gibt es keinen Grund. Es macht auch keinen großen Unterschied. Die Menschen entscheiden sich. Manche Menschen wollen lieber schlecht sein, wollen lieber grausam sein. Es ist einfach ei n häßlicher Teil des Lebens." Ich fing an, ihr durch das Haar zu streichen.
    Sie murmelte, ihre Stimme war schwer von Schlaf. "Wie Jimmy Groome. Er wohnt in unserer Straße und erschießt Vögel mit seiner Pistole, und er stiehlt gern die Vogeleier aus den Nestern und zerschlägt sie auf der Straße, um zu sehen, wie der kleine Vogel zappelt. Ich hasse ihn. Ich hasse Jimmy Groome. Ich habe einmal einen Stein nach ihm geschmissen und ihn getroffen, als er auf seinem Fahrrad vorbeifuhr. Aber er weiß nicht, daß

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