Ein Fall für Kay Scarpetta
ich es war, weil ich hinter den Büschen versteckt war."
Ich trank meinen Wein und strich ihr weiter durch die Haare.
"Gott wird nicht zulassen, daß dir etwas geschieht, nicht wahr?" fragte sie.
"Mir wird nichts passieren, Lucy. Ich verspreche es."
"Wenn du zu Gott betest, daß er auf dich aufpassen soll, dann tut er das auch, oder?"
"Er paßt auf uns auf."
Obwohl ich nicht sicher war, daß ich das glaubte. Sie runzelte die Stirn. Ich war auch nicht sicher, ob sie es glaubte.
"Hast du nie Angst?"
Ich lächelte. "Jeder hat hin und wieder mal Angst. Ich bin vollkommen sicher. Nichts wird geschehen."
Das letzte, was sie murmelte, bevor sie einschlief, war: "Ich wünschte, ich könnte immer hier sein, Tante Kay. Ich möchte genau wie du sein."
Zwei Stunden später saß ich im Sessel, war immer noch hellwach und starrte auf eine Seite in einem Buch, ohne wirklich die Worte zu sehen, als das Telefon klingelte.
Ich reagierte mit einem Reflex und griff nach dem Hörer, mein Herz pochte. Ich erwartete und fürchtete, Marinos Stimme zu hören, als ob die letzte Nacht von vorn beginnen würde.
"Hallo?"
Nichts.
"Hallo?"
Im Hintergrund konnte ich die leise Musik hören, die an fremdländische Filme oder Horrorfilme oder an die kratzenden Klänge eines Grammophons erinnerte, bevor das Freizeichen die Verbindung unterbrach.
4
"Kaffee?"
"Ja, bitte", sagte ich.
Das genügte als "Guten Morgen". Immer wenn ich an Neils Vanders Labor vorbeikam, war seine Begrüßung "Kaffee?", den ich immer dankend annahm. Koffein und Nikotin sind zwei Laster, die ich mir bereitwillig angewöhnt habe. Ich würde nie auf die Idee kommen, ein Auto zu kaufen, das nicht so robust wie ein Tankwagen ist, und ich würde nie den Motor starten, bevor ich mich angeschnallt habe. In meinem Haus sind Rauchalarmmelder und eine teure Alarmanlage installiert. Ich fliege nicht mehr gern und bevorzuge die Eisenbahn.
Aber Koffein, Zigaretten und Cholesterin, die grimmigen Geißeln jedes normalen Menschen - Gott ließ nicht zu, daß ich sie aufgebe. Ich gehe zu einer nationalen Tagung und sitze an einer Tafel mit dreihundert anderen Gerichtsmedizinern, der Welt besten Experten für Krankheit und Tod. Fünfundsiebzig Prozent von uns machen weder Jogging noch Aerobic, gehen nicht zu Fuß, wenn sie fahren können, stehen nicht, wenn sie sitzen können, und vermeiden hartnäckig Stufen oder Hügel.
Ein Drittel von uns raucht, die meisten trinken, und alle essen wir, als gäbe es keinen nächsten Tag. Streß, Depression, vielleicht das intensivere Bedürfnis nach Lachen und Freude aufgrund des Elends, das wir sehen - wer kennt schon den genauen Grund dafür. Einer meiner Freunde in Chicago sagt gern: "Zum Teufel! Du stirbst. Jeder stirbt. Du stirbst gesund. Na und?"
Vander ging zur Kaffeemaschine an der Theke hinter seinem Tisch und goß zwei Tassen ein. Er hatte meinen Kaffee schon unzählige Male zubereitet und wußte immer noch nicht, daß ich ihn schwarz trank.
Mein Ex-Ehemann konnte sich auch nie erinnern. Sechs Jahre lang lebte ich mit Tony zusammen, und er konnte sich nicht merken, daß ich den Kaffee schwarz trank oder meine Steaks medium mochte, nicht blutrot, nur ein wenig rosa. Ganz zu schweigen von meiner Kleidergröße. Ich trage Größe achtunddreißig, habe eine Figur, mit der man fast alles tragen kann, aber ich kann Fransen, Rüschen und anderen Firlefanz nicht ausstehen. Er kaufte immer irgend etwas in Größe sechsunddreißig, meistens durchsichtig, mit Spitzen, fürs Bett gedacht. Die Lieblingsfarbe seiner Mutter war Grasgrün. Sie liebte Rüschen, haßte Pullover, zog Reißverschlüsse vor, war allergisch gegen Wolle, hatte keine Lust, sich mit irgend etwas zu beschäftigen, was gereinigt oder gebügelt werden mußte, hatte eine körperliche Abneigung gegen Pink, gedecktes Weiß oder Beige, mochte nichts Quergestreiftes oder Gemustertes tragen, wollte um nichts in der Welt tot in Wildleder aufgefunden werden, glaubte, ihr Körper paßte nicht zu Falten, und hatte eine Vorliebe für Taschen - je mehr, desto besser. Wenn es seine Mutter betroffen hatte, hatte Tony schon irgendwie das Richtige gefunden. Vander füllte in meine Tasse genauso gehäufte Teelöffel von Milchpulver und Zucker wie in seine. Wie immer schaute er unordentlich aus, sein graumeliertes Haar war zerzaust, sein riesiger Kittel mit Fingerabdruckpulver verschmiert, ein Bündel von Kugelschreibern steckte in seiner tintenbeklecksten Brusttasche. Er war ein großer
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