Ein Fall für Kay Scarpetta
sie offensichtlich schlechte Laune.
"Es tut mir leid, daß wir heute nicht nach Monticello fahren konnten, Lucy", wagte ich einen Vorstoß.
Ein Achselzucken.
"Ich bin genauso enttäuscht wie du", sagte ich.
Noch ein Achselzucken. "Ich sitze sowieso lieber am Computer."
Sie meinte es nicht so, aber die Bemerkung tat weh.
"Ich hatte mächtig viel zu tun", fuhr sie fort und drückte kräftig auf die Eingabetaste. "Deine Daten mußten mal gründlich aufgeräumt werden. Ich wette, du hast sie seit über einem Jahr nicht mehr sortiert und eingerichtet." Sie fuhr in meinem Ledersessel herum, und ich ging zur Seite, die Hände in die Hüften gestemmt.
"Also habe ich alles in Ordnung gebracht."
"Du hast was!"
Nein, so etwas würde Lucy nicht tun. Einrichten war dasselbe wie formatieren, sperren oder löschen aller Daten auf der Festplatte. Auf der Festplatte waren - oder waren gewesen - ein halbes Dutzend statistischer Tabellen, die ich für wissenschaftliche Berichte benutzte. Die letzten Sicherheitskopien hatte ich vor mehreren Monaten gemacht.
Lucys grüne Augen starrten mich an, wirkten eulenhaft hinter den dicken Brillengläsern. Ihr rundes, elfenhaftes Gesicht war hart, als sie sagte: "Ich habe in den Büchern nachgesehen, wie es geht. Alles, was man tun muß, ist IORI und dann das C-prompt einzugeben, danach wird eingerichtet, du gibst Addall und Catalog.ora ein. Ganz einfach. Jeder Idiot könnte das rauskriegen."
Ich antwortete nicht. Ich tadelte sie nicht wegen der unschönen Worte. Mir wurde weich in den Knien. Ich erinnerte mich daran, wie Dorothy mich einmal vor einigen Jahren völlig hektisch angerufen hatte. Während sie einkaufte, war Lucy in ihr Arbeitszimmer gegangen und hatte jede einzelne ihrer Disketten formatiert und damit gelöscht. Auf zweien davon war der Text des Buches, das Dorothy schrieb, Kapitel, die sie noch nicht ausgedruckt oder gesichert hatte. Ein ungeheuerlicher Vorfall.
"Lucy. Das hast du nicht getan."
"Oh, keine Sorge", sagte sie mürrisch. "Ich habe deine Daten vorher gesichert. So stand's in dem Buch. Und dann habe ich sie wieder zurückgeholt und deine Benutzerrechte wieder angeschlossen. Ist alles da. Nur geordnet, räumlich gesehen, meine ich."
Ich zog einen Polstersessel heran und setzte mich neben sie. Da bemerkte ich erst, was unter einem Stapel von Disketten lag: die Abendzeitung, zusammengefaltet, wie Zeitungen gefaltet sind, wenn sie gelesen worden waren. Ich zog sie heraus und schlug die erste Seite auf. Die Schlagzeile war das letzte, was ich jetzt sehen wollte.
JUNGE CHIRURGIN ERMORDET: WAHRSCHEINLICH DAS 4. OPFER DES WÜRGERS
Eine dreißigjährige Chirurgieassistentin wurde kurz nach Mitternacht in ihrem Haus in Berkley Downs brutal ermordet aufgefunden. Die Polizei sagt, es gibt mehrere Hinweise darauf, daß ihr Tod mit dem dreier weiterer Frauen in Zusammenhang steht, die in den letzten zwei Monaten in Richmond in ihren Wohnungen erwürgt worden waren. Das letzte Opfer wurde identifiziert als Lori Petersen, Absolventin der Medizinischen Universität von Harvard. Sie wurde zuletzt gestern lebend gesehen, kurz nach Mitternacht, als sie die Notaufnahme der Universitätsklinik verließ, wo sie in der Traumatologie arbeitete. Man nimmt an, daß sie vom Krankenhaus direkt nach Hause gefahren ist und irgendwann zwischen elf Uhr dreißig und zwei Uhr heute morgen ermordet wurde. Der Mörder ist anscheinend in das Haus gelangt, indem er ein Gitter zu einem unverschlossenen Badezimmerfenster herausschnitt.
Es ging noch weiter. Es gab ein Foto, ein unscharfes Schwarzweißbild von Sanitätern, die die Leiche über die Vordertreppe nach unten tragen, und ein kleineres Bild von einer Person in einem Regenmantel, in der ich mich selbst erkannte. Die Unterschrift besagte: Dr. Kay Scarpetta, Chief Medical Examiner, kommt am Tatort an.
Lucy starrte mich mit großen Augen an. Bertha war weise gewesen, die Zeitung zu verstecken, aber Lucy war erfinderisch. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Was denkt ein zehnjähriges Mädchen, wenn sie so etwas liest, vor allem, wenn ein Foto ihrer Tante Kay dabei ist?
Ich hatte Lucy nie die Details meines Berufes erklärt. Ich hatte mich zurückgehalten, ihr etwas über die Welt beizubringen, in der wir lebten. Ich wollte nicht, daß es ihr wie mir erging, beraubt der Naivität und des Idealismus, der Stoff, aus dem das Vertrauen ist, für immer zerrissen.
"Es ist wie im Herald", überraschte sie mich. "Andauernd steht im Herald
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