Ein Fall für Kay Scarpetta
Stromkreis. Selbst wenn der Hauptcomputer nicht funktionierte, konnte ich meinen PC zumindest für die Textverarbeitung benutzen. Marino gab mir die zwei Disketten, die auf dem Tisch in Petersens Schlafzimmer gelegen hatten. Ich steckte sie in die Laufwerke und gab einen Directory-Befehl für jede ein.
Auf dem Bildschirm erschien eine Inhaltsangabe von Dateien oder Kapiteln von etwas, was offensichtlich Matt Petersens Dissertation war. Das Thema war Tennessee Williams, "dessen erfolgreichste Theaterstücke eine frustrierende Welt enthüllten, in der Sex und Gewalt unter einer Oberfläche romantischer Freundlichkeit liegen", stand im ersten Abschnitt der Einleitung.
Marino schielte über meine Schulter und schüttelte den Kopf. "Jesus", murmelte er, "das wird ja immer besser. Kein Wunder, daß der Kerl ausgeflippt ist, als ich ihm sagte, daß wir diese Disketten mitnehmen. Schauen Sie sich das an."
Ich ließ den Text weiterlaufen. Es huschten Williams kontroverse Abhandlungen über Homosexualität und Kannibalismus vorbei. Da waren Verweise auf den brutalen Stanley Kowalski und den kastrierten Gigolo in "Sweet Bird of Youth". Ich brauchte keine hellseherischen Fähigkeiten, um Marinos Gedanken zu lesen, die so banal waren wie die erste Seite einer Boulevardzeitung. Für ihn unterschied dieser Text sich in nichts von normaler Pornographie. Brennstoff für die psychopathischen Geister, die sich von sexuellen Abarten und Gewalt nähren. Marino würde nicht einmal dann einen Unterschied zwischen dem wahren Leben und dem Theater erkennen, wenn man ihn mit vorgehaltener Pistole dazu zwingen würde, einen Theatergrundkurs zu absolvieren. Leute wie Williams und sogar Matt Petersen, die solche Szenarien erfinden, sind selten die Individuen, die tatsächlich ihren Phantasien entsprechen.
Ich sah Marino direkt an. "Was würden Sie denken, wenn Petersen ein Gelehrter des Alten Testaments wäre?"
Er zuckte mit den Schultern, seine Augen glitten von mir wieder zum Bildschirm. "Hey! Das hier ist nicht der Kram, den man in der Sonntagsschule lernt."
"Vergewaltigung, Drogen, Hinrichtungen und Prostitution auch nicht. Und im wahren Leben war Truman Capote kein Massenmörder, Sergeant."
Er trat von dem Computer zurück und ging zu einem Stuhl. Ich drehte mich um und sah ihn über meinen Tisch hinweg an. Normalerweise, wenn er zu mir ins Büro kam, zog er es vor, zu stehen, auf den Füßen zu bleiben, um auf mich herabschauen zu können. Aber jetzt saß er, und unsere Augen waren auf derselben Höhe. Ich kam zu dem Schluß, daß er wohl noch eine ganze Weile bleiben wollte.
"Wie wär's, wenn Sie versuchen würden, das Ding hier ausdrucken zu lassen? Macht's Ihnen was aus? Sieht aus, als wäre es genau der richtige Lesestoff vor dem Schlafengehen." Er lächelte abfällig. "Wer weiß? Vielleicht zitiert dieser Fan der amerikanischen Literatur auch den Marquis-Sade-oder-wie-er-sonst-heißt da drinnen."
"Der Marquis de Sade war Franzose."
"Ist doch ganz egal."
Ich versuchte meine Verwirrung zu verbergen. Ich fragte mich, was geschehen würde, wenn die Frau von einem der Gerichtsärzte meines Institutes ermordet werden würde. Würde Marino in die Bibliothek gehen und denken, er hätte ins Schwarze getroffen, wenn er einen Band nach dem anderen über Gerichtsmedizin und perverse Verbrechen der Geschichte finden würde?
Seine Augen verengten sich, als er sich eine neue Zigarette anzündete und einen tiefen Zug nahm. Er wartete, bis er einen dünnen Strahl von Rauch ausgeblasen hatte, bevor er sagte: "Sie haben anscheinend eine recht hohe Meinung von Petersen. Worauf ist sie begründet? Auf der Tatsache, daß er ein Künstler ist, oder weil er ein erstklassiges College-Kind war?"
"Ich habe gar keine Meinung von ihm", antwortete ich. "Ich weiß nichts von ihm, außer daß er nicht so richtig ins Bild paßt, um der Mensch zu sein, der all diese Frauen erwürgt hat."
Er wurde nachdenklich. "Schön. Aber ich weiß einiges über ihn, Doc. Sehen Sie, ich habe einige Stunden lang mit ihm geredet." Er griff in eine Tasche seiner karierten Sportjacke und warf zwei Kassetten auf die Tischplatte, in meine Reichweite.
Ich zog meine Zigaretten heraus und zündete mir ebenfalls eine an.
"Lassen Sie mich Ihnen erzählen, wie es ablief. Ich und Becker sind in der Küche mit ihm, okay? Die Leute sind gerade mit der Leiche weg, als Petersens Persönlichkeit sich plötzlich vollkommen veränderte. Er setzt sich aufrechter in den Stuhl, sein Blick
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