Ein Fall für Kay Scarpetta
Wochenenden hielt sie für mich frei. Das war unsere Zeit. Wir waren jedes Wochenende zusammen."
Marino: "Letztes Wochenende war das letzte Mal gewesen, daß Sie sie gesehen haben?"
"Sonntag nachmittag, gegen drei. Bevor ich nach Charlottesville zurückfuhr. Wir gingen an dem Tag nicht aus. Es regnete in Strömen. Wir blieben zu Hause, tranken Kaffee, redeten ..."
Marino: "Wie oft haben Sie während der Woche mit ihr telefoniert?"
"Mehrere Male. Sooft wir konnten."
Marino: "Das letzte Mal, war es gestern abend, Donnerstag abend?"
"Ich rief an, um ihr zu sagen, daß ich nach der Probe kommen würde, daß es etwas später werden könnte als sonst, wegen der Kostümprobe. Sie hätte dieses Wochenende freihaben sollen. Wenn es schön sein würde, wollten wir an den Strand fahren."
Stille.
Petersen kämpfte. Ich konnte hören, wie er tief Luft holte und versuchte, ruhig zu werden.
Marino: "Als Sie gestern abend mit ihr geredet haben, hatte sie irgend etwas zu erzählen, irgendwelche Probleme, irgendeine Bemerkung über jemanden, der zu ihr gekommen war? Irgend jemanden, der sie bei der Arbeit störte, vielleicht obszöne Anrufe oder so etwas?"
Stille.
"Nichts, nichts dergleichen. Sie war guter Laune, lachte... freute sich, äh, freute sich auf das Wochenende."
Marino: "Erzählen Sie uns etwas mehr über sie, Matt. Jedes kleine Detail, von dem Sie meinen, daß es uns helfen könnte. Ihr Milieu, ihr Charakter, was ihr wichtig war."
Mechanisch: "Sie ist aus Philadelphia, ihr Vater ist Versicherungsagent, und sie hat zwei Brüder, beide jünger. Medizin war das wichtigste für sie. Es war ihre Berufung."
Marino: "In welche Richtung wollte sie sich spezialisieren?"
"Plastische Chirurgie."
Becker: "Interessant. Warum hat sie sich dafür entschieden?"
"Als sie zehn oder elf Jahre alt war, bekam ihre Mutter Brustkrebs, mußte sich radikalen Brustamputationen unterziehen. Sie überlebte, aber ihr Selbstwertgefühl war ruiniert. Ich denke, sie fühlte sich deformiert, wertlos, unberührbar. Lori redete manchmal darüber. Ich glaube, sie wollte Menschen helfen. Menschen helfen, die ähnliches durchgemacht haben."
Mar ino: "Und sie spielte Geige."
"Ja."
Marino: "Gab sie jemals Konzerte, spielte sie in einem Orchester, irgendwo in der Öffentlichkeit?"
"Sie hätte es gekonnt, glaube ich. Aber sie hatte nicht die Zei t dazu."
Marino: "Was noch? Sie sind ein großer Schauspieler, bereiten gerade ein Stück vor. Interessierte sie sich für diese Art von Dingen?"
"Sehr sogar. Das war eines der Dinge, die mich an ihr faszinierten, als ich sie kennenlernte. Wir verließen damals die Party, die Party, auf der wir uns kennengelernt hatten, und liefen stundenlang durch das Gelände. Als ich ihr etwas über die Kurse erzählte, die ich besuchte, stellte ich fest, daß sie eine ganze Menge über das Theater wußte, und wir fingen an, über Stücke und so zu reden. Ich beschäftigte mich damals gerade mit Ibsen. Wir unterhielten uns darüber, über Wirklichkeit und Illusion, was echt und was häßlich ist an den Menschen und der Gesellschaft. Eines der wichtigsten Themen ist das Gefühl der Entfremdung von zu Hause, von Trennung. Wir redeten darüber. Und sie überraschte mich. Ich werde das nie vergessen. Sie lachte und sagte: >Ihr Künstler denkt, ihr seid die einzigen, die solche Dinge empfinden. Viele von uns spüren dieselben Gefühle, dieselbe Leere, dieselbe Einsamkeit. Aber wir haben nicht das Werkzeug, um sie auszudrücken. Also machen wir weiter, kämpfen wir. Gefühle sind Gefühle. Ich glaube, die Menschen auf der ganzen Welt haben so ziemlich dieselben Gefühle.< Wir fingen an zu streiten, eine freundliche Diskussion. Ich war nicht einverstanden. Manche Leute fühlen Dinge tiefer als andere, und manche Leute fühlen Dinge, die die anderen nicht fühlen. Das ist es, was die Einsamkeit hervorruft, das Gefühl, abseits zu stehen, anders zu sein ... "
Marino: "Ist d as etwas, was Sie empfinden?"
"Es ist etwas, was ich verstehe. Ich mag vielleicht nicht alles fühlen, was andere Leute fühlen, aber ich verstehe die Gefühle. Nichts überrascht mich. Wenn man Literatur studiert, das Schauspiel, kommt man mit einem großen Spektrum menschlicher Emotionen, Nöte und Triebe in Berührung, gute und schlechte. Es liegt in meiner Natur, in andere Charaktere zu schlüpfen, zu fühlen, was sie fühlen, zu handeln, wie sie es tun, aber das heißt nicht, daß diese Darstellungen meine eigenen sind. Ich glaube, wenn ich mich
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