Ein Fall für Kay Scarpetta
selbst konzentrierte mich hauptsächlich auf die Kaufhäuser und Restaurants im Westteil, außer wenn ich bei der Arbeit war.
Die Frau an der Theke, die meine Bestellung für einen griechischen Salat entgegennahm, hielt einen Moment inne, ihre Augen auf mein Gesicht gerichtet, als ob ich ihr bekannt vorkäme. Ich fragte mich mit Unbehagen, ob sie mein Bild in der Abendzeitung gesehen hatte. Oder sie könnte mich auf einem der Archivbilder oder den Gerichtszeichnungen gesehen haben, die die lokalen Fernsehsender immer aus ihren Akten suchten, wenn es wieder einmal eine Sensationsnachricht von irgendeinem Mord in Virginia gab.
Ich hatte mir immer gewünscht, unbeachtet zu sein, nicht aufzufallen. Aber aus mehreren Gründen standen dafür die Chancen schlecht. Es gab wenige Frauen im Land, die Chief Medical Examiners waren, und das veranlaßte die Reporter dazu, besonders hartnäckig zu sein. Man konnte mich leicht an bestimmten "Merkmalen" erkennen, "blond" und "hübsch" und was ich sonst noch alles in der Zeitung genannt worden bin. Meine Vorfahren sind aus Norditalien, wo es eine Linie gibt, die blaue Augen und blonde Haare hat.
Die Scarpettas sind Italiener, die andere Italiener in diesem Land geheiratet haben, um das "Blut rein zu halten". Der größte Fehler meiner Mutter war, wie sie mir erzählte, daß sie nur zwei Töchter geboren hat und daß damit das Ende der Sippe gekommen war. Dorothy besudelte die Linie mit Lucy, und in meinem Alter und Familienstand war es nicht anzunehmen, daß ich überhaupt noch irgend etwas besudeln würde.
Meine Mutter neigte dazu, in Tränen auszubrechen, wenn sie darüber klagte, daß sich ihre Familie im Aussterben befand. "All das gute Blut", schluchzte sie dann, vor allem während der Ferien, wo sie von zahlreichen liebenswerten und liebenden Enkeln umgeben sein wollte. "So eine Schande! All das gute Blut! Unsere Vorfahren! Architekten, Maler! Kay, das alles wegzuwerfen wie die feinen Trauben auf den Reben."
Unser Stammbaum kann zurückverfolgt werden bis nach Verona, sofern man meiner Mutter glauben konnte. Sie verharrt in der Überzeugung, daß wir irgendwie verwandt sind mit Tizian und Dante, obwohl ich mich daran erinnere, daß Tizian in Wirklichkeit aus Venedig stammte und der Dichter Dante aus Florenz kam. Unsere direkten Vorfahren waren in Wirklichkeit bei der Eisenbahn oder Bauern gewesen, bescheidene Menschen, die in der vorletzten Generation in dieses Land hier eingewandert sind. Mit einer weißen Tüte in der Hand begab ich mich wieder hinaus in die warme, wohltuende Nachmittagsluft. Auf den Gehwegen drängten sich die Leute, die vom Essen kamen, und während ich an einer Ecke wartete, daß die Ampel grün wurde, drehte ich mich instinktiv zu den zwei Männern, die aus dem chinesischen Restaurant auf der anderen Seite der Straße herauskamen. Ein mir bekannter blonder Schöpf fiel mir ins Auge. Bill Boltz, der Oberste Staatsanwalt von Richmond, setzte eine Sonnenbrille auf und schien in einem angeregten Gespräch mit Norman Tanner, dem Leiter des Amtes für öffentliche Sicherheit, zu sein. Einen Moment lang starrte Boltz mich direkt an, aber er erwiderte mein Winken nicht. Vielleicht sah er mich nicht wirklich. Ich winkte nicht noch einmal. Dann waren die beiden Männer verschwunden. Als die Ampel nach einer unendlich langen Zeit auf Grün umschaltete, ging ich über die Straße, und als ich mich einem Computerladen näherte, mußte ich an Lucy denken. Ich ging hinein und fand etwas, was ihr sicher gefallen würde, kein Videospiel, sondern ein Frage- und Antwortspiel über Kunst und Musik. Gestern hatten wir ein Paddelboot gemietet und waren auf dem kleinen See herumgefahren. Sie lenkte das Boot in einen Springbrunnen hinein, um mir eine lauwarme Dusche zu verpassen, und ich spielte albern mit und revanchierte mich. Wir fütterten Gänse mit Brot und aßen Traubeneis, bis unsere Zungen blau waren. Am Donnerstag morgen würde sie nach Hause nach Miami fliegen, und ich würde sie bis Weihnachten nicht mehr sehen, wenn ich sie dieses Jahr überhaupt noch einmal sehen konnte.
Es war Viertel vor eins, als ich in die Vorhalle des Büros des Chief Medical Examiners, oder OCME, wie es genannt wurde, trat. Benton Wesley war fünfzehn Minuten zu früh gekommen, saß auf der Couch und las das Wall Street Journal.
"Ich hoffe, Sie haben etwas zu trinken in dieser Tüte", sagte er scherzend, faltete die Zeitung zusammen und griff nach seiner Aktentasche.
"Weinessig. Sie
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