Ein Fall für Kay Scarpetta
durch die Fenster ihrer Häuser oder Appartements zu beobachten. Es wird realer. Als nächstes vergewaltigt er. Die Vergewaltigungen werden brutaler und gipfeln schließlich in Mord. Es wird sich immer weiter steigern, bei jedem weiteren Opfer wird er gewalttätiger und ausfallender werden. Vergewaltigung ist nicht mehr das Motiv. Jetzt ist es Mord; Dann ist Mord allein auch nicht mehr genug. Es muß sadistisch werden."
Sein Arm streckte sich, wobei die Manschette eines perfekt gestärkten Hemdes zum Vorschein kam, und er griff nach Lori Petersens Fotos. Langsam sah er sie durch, eines nach dem anderen, mit ausdruckslosem Gesicht. Dann schob er den Stapel vorsichtig von sich weg und drehte sich zu mir her. "Es erscheint mir eindeutig, daß der Mörder in ihrem Fall, in Dr. Petersens Fall, Elemente der Folterung eingeführt hat. Ist diese Annahme richtig?"
"G anz richtig", antwortete ich.
"Was? Indem er ihre Finger gebrochen hat?" Marino stellte die Frage, als ob er Streit suchte. "Der Mob macht so einen Quatsch. Sexualmörder machen so was normalerweise nicht. Sie spielte Geige, nicht wahr? Ihre Finger zu brechen erscheint mir ganz schön persönlich zu sein. Als ob der Typ, der es gemacht hat, sie gekannt hätte."
So ruhig wie möglich sagte ich: "Die Chirurgiebücher auf ihrem Tisch, die Geige - der Mörder mußte kein Genie sein, um etwas über sie zu wissen."
Wesley bemerkte: "Eine andere Möglichkeit wäre, daß ihre Finger und Rippen gebrochen sind, als sie versuchte, sich zu verteidigen."
"Sicher nicht." Ich war ziemlich überzeugt davon. "Ich habe nichts gefunden, was einen Hinweis darauf geben könnte, daß sie mit ihm gekämpft hat."
Marino richtete seine ausdruckslosen, unfreundlichen Augen auf mich. "Wirklich? Das interessiert mich. Was meinen Sie mit Verletzungen, die darauf schließen lassen, daß sie sich verteidigt hat? Nach Ihrem Bericht hatte sie einen ganzen Haufen blauer Flecke."
"Gute Beispiele für solche Verletzungen" - unsere Augen trafen sich, und ich hielt dem Blick stand - "sind gebrochene Fingernägel, Kratzer oder Verletzungen an Stellen der Hände und der Arme, die betroffen gewesen wären, wenn das Opfer versucht hätte, Schläge abzuwehren. Ihre Verletzungen passen nicht dazu."
Wesley faßte zusammen: "Dann sind wir alle derselben Meinung. Dieses Mal war er noch gewalttätiger als sonst."
"Brutal, das ist das richtige Wort", sagte Marino schnell, als ob er schon lange darauf gewartet hatte, diese Bemerkung machen zu können. "Das ist es doch, was ich meine. Der Fall Lori Petersen ist anders als die anderen drei."
Ich unterdrückte meine Wut. Die ersten drei Opfer waren gefesselt, vergewaltigt und erdrosselt worden. Das war nicht brutal! Mußten sie auch noch gebrochene Knochen haben?
"Wenn es noch einen Mord gibt, dann werden noch stärkere Hinweise auf Gewalt und Folter zu finden sein", sagte Wesley düster voraus. "Er mordet aus einem Zwang heraus, weil er versuchen muß, irgendein Bedürfnis zu befriedigen. Je öfter er es tut, desto stärker wird dieses Bedürfnis und desto frustrierter wird er, wodurch das Bedürfnis immer noch stärker wird. Die Sensibilitätsschwelle wird immer größer, und es muß bei jedem Mord mehr passieren, um ihn zu befriedigen. Die Befriedigung ist nur temporär. Über die nachfolgenden Tage oder Wochen baut sich die Spannung auf, bis er sein nächstes Opfer findet. Er beobachtet sie, und dann schlägt er wieder zu. Die Intervalle zwischen den einzelnen Morden werden vermutlich immer kürzer. Schließlich kann es zur Eskalation kommen, und er könnte ein Massenmörder werden wie Bundy."
Ich dachte über die Zeiträume nach. Die erste Frau wurde am 19. April ermordet, die zweite am 10. Mai, die dritte am 31. Mai. Lori Petersen wurde nur eine Woche später ermordet, am 7. Juni. Was Wesley sonst noch über ihn sagte, war leicht nachvollziehbar. Der Mörder hatte ein "gestörtes Zuhause" und könnte selbst mißhandelt worden sein, entweder auf physischer oder auf emotionaler Ebene, von seiner Mutter. Wenn er mit einem Opfer zusammen war, reagierte er seine Wut ab, die untrennbar verknüpft war mit seiner Lust.
Er war überdurchschnittlich intelligent, zwanghaft obsessiv und sehr ordentlich bis pedantisch. Er könnte zu zwanghaften Verhaltensmustern neigen, Phobien oder Ritualen, die die Ordnung, die Reinlichkeit oder seine Ernährung betreffen konnten - alles das, was ihm das Gefühl gab, daß er seine Umgebung unter Kontrolle hatte. Er hatte
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