Ein Fall für Kay Scarpetta
schnitt schlecht ab und wußte dabei, daß ständig verglichen wurde. Die einzigen Jagden und Grillfeste, auf die ich eingeladen wurde, waren Gerichtssäle und Konferenzen, auf denen mit Pfeilen auf mich geschossen und Feuer unter meinen Füßen gemacht wurde.
Wenn Dr. Alvin Amburgeys erstes Jahr im Büro des Commissioners nur ein kleiner Vorgeschmack gewesen war, dann würden die nächsten drei Jahre mit ihm die Hölle werden. Er drang in mein Revier ein. Er überwachte alles, was ich tat. Es verging keine Woche, in der ich nicht irgendeine arrogante Mitteilung von ihm über das Fax erhielt, in der er mich nach statistischen Zahlen gefragt hat oder wissen wollte, warum die Mordrate weiterhin ansteigt, während andere Verbrechen zurückgingen - als ob es irgendwie mein Fehler wäre, daß die Leute in Virginia sich gegenseitig umbrachten. Was er bisher noch nie getan hatte, war, eine plötzliche Zusammenkunft einzuberufen.
In der Vergangenheit hatte er, wenn er etwas zu besprechen hatte und kein Fax sandte, einen seiner Gehilfen geschickt. Es gab für mich keinen Zweifel, daß er nicht vorhatte, mir auf die Schultern zu klopfen und mir mitzuteilen, was für eine gute Arbeit ich doch leistete.
Ich sah abwesend über die Stapel auf meinem Tisch und versuchte, etwas zu finden, mit dem ich mich bewaffnen konnte - Akten, ein Notizbuch, eine Schreibunterlage. Aus irgendeinem Grund machte mir der Gedanke, dort mit leeren Händen hineinzugehen, ein ungutes Gefühl. Ich leerte die verschiedenartigen Überreste, die sich im Laufe eines Tages ansammelten, aus den Taschen meines Kittels, machte mich daran, eine Schachtel Zigaretten oder "Krebsstäbe", wie Amburgey sie nannte, hineinzupacken, und trat hinaus in den späten Nachmittag.
Er residierte auf der anderen Seite der Straße im vierundzwanzigsten Stock des Monroe-Gebäudes. Über ihm gab es niemanden mehr, außer eventuell einmal einer Taube, die auf dem Dach saß. Die meisten seiner Untertanen hatten ihren Arbeitsplatz in den zahllosen, unteren Stockwerken voller HHSD-Agenturen. Ich hatte sein Büro nie gesehen. Ich war noch nie eingeladen worden.
Der Aufzug öffnete sich zu einer riesigen Vorhalle, wo seine Empfangsdame sich hinter einem hufeisenförmigen Schreibtisch niedergelassen hatte. Sie war eine vollbusige Rothaarige, kaum zwanzig, und als sie von ihrem Computer aufsah und mich mit einem eingeübten, kecken Lächeln begrüßte, erwartete ich fast, daß sie mich fragte, ob ich reserviert hätte und ob ich einen Pagen für mein Gepäck brauchte.
Ich sagte ihr, wer ich bin, was nicht das geringste Anzeichen von Erkennen in ihr auszulösen schien.
"Ich habe um vier einen Termin mit dem Commissioner", fügte ich hinzu.
Sie sah in dem Terminkalender im Computer nach und meinte freundlich: "Bitte machen Sie es sich bequem, Mrs. Scarpetta. Dr. Amburgey wird gleich Zeit für Sie haben."
Als ich mich auf eine beigefarbene Ledercouch setzte, sah ich mich suchend auf den glänzenden, gläsernen Couch- und Ecktischchen um, auf denen sich zahlreiche Zeitschriften und Seidenblumenarrangements befanden. Es gab keinen Aschenbecher, nicht einen einzigen, und an zwei Wänden hingen Schilder, auf denen "Bitte nicht rauchen" stand. Die Minuten schlichen dahin.
Die rothaarige Empfangsdame schlürfte Perrier durch einen Strohhalm und war mit Tippen beschäftigt. Irgendwann wollte sie mir etwas zu trinken anbieten.
Ich lächelte ein "Nein, danke", und ihre Finger flogen wieder über die Tasten, und der Computer beklagte sich mit einem lauten Piep. Sie seufzte, als ob sie gerade schlimme Nachrichten aus der Buchhaltung bekommen hätte. Meine Zigaretten bildeten einen harten Klumpen in meiner Tasche, und ich war versucht, eine Damentoilette aufzusuchen, um mir eine anzustecken.
Um vier Uhr dreißig klingelte ihr Telefon. Als sie auflegte - wieder dieses freundliche, leere Lächeln -, verkündete sie: "Sie können hineingehen, Mrs. Scarpetta."
Die Tür des Commissioners öffnete sich mit einem weichen Klick des Messingdrehknopfes, und sofort sprangen drei Männer auf - von denen ich nur einen zu sehen erwartet hatte. Bei Amburgey waren Norman Tanner und Bill Boltz, und als es an Bill Boltz war, mir die Hand zu geben, schaute ich ihm direkt in die Augen, bis er verlegen wegsah. Ich war verletzt und ein bißchen wütend. Warum hatte er mir nicht gesagt, daß er hier sein würde? Warum hatte ich kein Wort mehr von ihm gehört, seit sich unsere Wege kurz bei Lori Petersen gekreuzt
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