Ein Fall für Kay Scarpetta
"Was erklärt es?"
Er antwortete nicht.
"Was erklärt es?" fragte ich lauter.
Er schaute langsam zu mir herüber. "Wollen Sie es wirklich wissen?"
"Ich denke, es wäre besser." Meine feste Stimme überdeckte meine Furcht, die schnell zur Panik wuchs.
"Nun, ich erkläre es Ihnen mal so. Wenn Tanner wüßte, daß wir beide heute nachmittag zusammen hier herumfahren, würde er mir vermutlich meine Marke um die Ohren hauen."
Ich starrte ihn mit offenem Entsetzen an. "Was sagen Sie da?"
"Sehen Sie, ich bin heute morgen im Hauptquartier auf ihn gestoßen. Er rief mich zu sich, um kurz mit mir zu sprechen, sagte, er und ein paar andere der Mannschaft würden diesem Durchsickern von Informationen einen Riegel vorschieben. Tanner sagte, i ch solle wirklich mit nieman dem über die Untersuchungen reden. Als ob man mir das sagen müßte. Verdammt. Aber er sagte noch etwas, was in dem Moment überhaupt keinen Sinn ergeben hatte. Tatsache ist, daß ich Ihrem Büro - sprich Ihnen - gegenüber nicht mehr erzählen darf, was vorgeht."
"Was -"
Er fuhr fort. "Wie die Untersuchungen vorangehen und was wir vermuten, meine ich. Sie sollten überhaupt nichts mehr erfahren. Tanners Befehl lautet dahingehend, daß wir zwar die medizinischen Informationen von Ihnen einholen sollen, daß wir Ihnen aber kaum mehr sagen sollen, als wie spät es gerade ist. Er sagte, es wäre schon zuviel durchgesickert und die einzige Art, dem Einhalt zu gebieten, bestünde darin, niemandem mehr etwas zu sagen, außer denen, die es wissen müssen, um an den Fällen arbeiten zu können ... "
"Das stimmt", sagte ich schnippisch. "Und das schließt mich ein. Diese Fälle gehören in meinen Zuständigkeitsbereich - oder hat das plötzlich jeder vergessen?"
"Hey", sagte er ruhig und starrte mich an. "Wir sitzen hier, oder?"
"Ja", antwortete ich etwas gelassener. "Das tun wir."
"Ich persönlich pfeife auf das, was Tanner sagt. Vielleicht hat er nur Angst wegen Ihrer Computergeschichte. Will nicht, daß die Cops dafür verantwortlich gemacht werden, daß vertrauliche Informationen an eine nach Belieben anzuwählende Stelle im Medical Examiners Office weitergegeben werden."
"Bitte ... "
"Vielleicht gibt es aber noch einen anderen Grund", murmelte er mehr zu sich selbst.
Was immer es war, er hatte nicht vor, es mir mitzuteilen. Er legte unsanft den Rückwärtsgang ein, und wir fuhren hinunter zum Fluß nach Berkley Downs.
Die nächsten zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten - ich nahm die Zeit nicht richtig wahr - sprachen wir nicht miteinander. Ich saß da, verlassen in einer grauenvollen Stille, und schaute zu, wie die Straßenränder an meinem Fenster vorbeihuschten. Es war, als wäre ich die Zielscheibe eines grausamen Scherzes oder einer Verschwörung, in die jeder eingeweiht war, außer mir. Das Gefühl der Isolation wurde unerträglich, meine Ängste so intensiv, daß ich mir meiner Urteilsfähigkeit, meiner Scharfsinnigkeit oder meines Verstandes nicht mehr sicher war. Ich glaube, ich war mir bei gar nichts mehr sicher.
Ich konnte nur noch die Überreste dessen sehen, was vor ein paar Tagen noch eine begehrenswerte berufliche Zukunft gewesen war. Mein Institut wurde für die durchgesickerten Informationen verantwortlich gemacht. Mein Versuch, Modernisierungen durchzusetzen, hatte meine eigenen strengen Geheimhaltungsrichtlinien untergraben.
Nicht mal Bill war sich meiner Zuverlässigkeit mehr sicher. Jetzt durften die Cops nicht mehr mit mir reden. Es würde nicht eher aufhören, bis sie mich zum Sündenbock für alle Grausamkeiten, die diese Morde kennzeichneten, gemacht hatten. Amburgey würde wahrscheinlich keine andere Wahl haben, als mich vom Dienst zu suspendieren, sofern er mir nicht gleich kündigte. Marino sah zu mir herüber.
Ich hatte nicht bemerkt, daß er von der Straße abgebogen war und angehalten hatte. "Wie weit war es?" fragte ich.
"Von wo?"
"Von dort, wo wir gerade waren, von Cecile Tylers Haus?"
"Exakt elf Komma acht Kilometer", antwortete er lakonisch, ohne auf den Kilometerzähler zu sehen. Im Tageslicht erkannte ich Lori Petersens Haus fast nicht. Es sah leer und unbewohnt aus. Die weiße Schindelfassade machte einen schmuddeligen Eindruck in dem schattigen Licht, die Fensterläden schienen dunkelblau zu sein. Die Lilien unterhalb der Vorderfenster waren niedergetrampelt worden, wahrscheinlich von den Polizisten, die jeden Zentimeter des Anwesens nach Beweisen absuchten. Ein Fetzen von einem gelben Markierungsklebeband
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