Ein Fall für Kay Scarpetta
Berechnung. Ich persönlich denke, es ist das Wochenende, weil er von Montag bis Freitag arbeitet und das Wochenende braucht, um sich wieder zu beruhigen, nachdem er gemordet hat. Vielleicht gibt es auch einen anderen Grund für dieses Vorgehensmuster. Es ist seine Art, ein Spielchen mit uns zu treiben. Der Freitag kommt, und er weiß, daß die Stadt, Leute wie Sie und ich, nervös sind wie eine Katze auf der Autobahn."
Ich zögerte, dann schnitt ich das Thema an. "Glauben Sie, sein Muster gerät außer Kontrolle? Daß die Morde immer näher beieinanderliegen, weil er immer mehr unter Streß gerät, vielleicht durch all die Veröffentlichungen?"
Er sagte nicht gleich etwas dazu. Dann sprach er sehr ernsthaft: "Es ist eine verdammte Sucht bei ihm, Doc. Wenn er mal angefangen hat, kann er nicht mehr aufhören."
"Wollen Sie damit sagen, daß die Veröffentlichungen nichts mit seinem Vorgehen zu tun haben?"
"Nein", antwortete er. "Das habe ich nicht gesagt. Seine Taktik ist es, im Hintergrund zu bleiben und den Mund zu halten, und vielleicht wäre er nicht ganz so cool, wenn die Reporter es ihm nicht so leichtmachten. Die Sensationsberichte sind ein Geschenk. Er muß nichts dafür tun. Die Reporter belohnen ihn, geben es ihm umsonst. Wenn niemand irgend etwas schreiben würde, wäre er frustriert und vielleicht leichtsinniger. Nach einer Weile würde er vielleicht anfangen, Briefe zu schicken, anzurufen, irgend etwas zu tun, was die Reporter in Gang bringt. Er könnte sich verraten."
Wir sprachen eine Weile lang nicht. Dann überraschte Marino mich. "Klingt so, als hätten Sie mit Fortosis gesprochen."
"Warum?"
"Die Sache mit dem Verlust von Kontrolle und die Nachrichten, die ihn unter Streß setzen und sein Verlangen schneller wachsen lassen."
"Hat er Ihnen das erzählt?"
Er nahm beiläufig seine Sonnenbrille ab und legte sie auf die Ablage. Als er mich ansah, war in seinen Augen ein schwacher Glanz von Wut. "Nein. Aber er hat es ein paar Leuten erzählt, die mir sehr nahestehen. Boltz zum einen, Tanner zum anderen."
"Woher wissen Sie das?"
"Weil ich in den Departements genauso viele Spitzel habe wie auf der Straße. Ich weiß genau, was vorgeht und wo es enden wird - möglicherweise."
Wir saßen schweigend da. Die Sonne war hinter den Dächern verschwunden, und lange Schatten krochen über die Wiesen und die Straße. Auf eine Art hatte Marino gerade die Tür aufgebrochen, die uns das gegenseitige Vertrauen bringen könnte. Er wußte es. Er sagte mir, daß er es wußte. Ich fragte mich, ob ich es wagen würde, die Tür weiter zu öffnen.
"Boltz, Tanner, die Machthabenden sind sehr verärgert über die an die Presse durchgesickerten Informationen", sagte ich vorsichtig. "Man kann auch wegen des schlechten Wetters einen Nervenzusammenbruch bekommen. Das kommt vor. Vor allem, wenn die >liebe Abby< in derselben Stadt wohnt." Ich lächelte bitter. Wie passend. Vertrauen Sie Ihre Geheimnisse der "lieben Abby" Turnbull an, und sie druckt jedes davon in ihrer Zeitung.
"Sie ist ein Riesenproblem", fuhr er fort. "Sitzt mittendrin, hat einen Draht, der mitten ins Herz des Departements führt. Ich glaube nicht, daß der Chef irgend etwas tun kann, von dem sie nichts weiß."
"Wer sagt es ihr?"
"Sagen wir einfach, ich habe so meine Vermutungen, aber ich komme damit noch nicht sehr weit, okay?"
"Sie wissen, daß jemand in meinen Bürocomputer eingedrungen ist", sagte ich, als wäre es eine allgemein bekannte Tatsache. Er sah mich scharf an.
"Seit wann?"
"Ich weiß es nicht. Vor einigen Tagen hat sich jemand Zugang verschafft und hat versucht, Lori Petersens Fall aufzurufen. Es war Glück, daß wir es entdeckt haben - ein einmaliges Versehen meiner Computeranalytikerin führte dazu, daß die Befehle des Eindringlings auf dem Bildschirm erschienen."
"Wollen Sie damit sagen, daß jemand sich seit Monaten Zugang verschafft haben könn te, ohne daß Sie es wüßten?"
"Das will ich damit sagen."
Er verstummte, sein Gesicht wurde hart.
Ich drängte ihn: "Ändert das etwas an Ihren Verdächtigungen?"
"Hm", sagte er kurz.
"Das ist alles?" fragte ich verärgert. "Sie haben nichts zu sagen?"
"Nein. Außer, daß Ihr Arsch verdammt nah am Feuer sein muß in diesen Tagen. Weiß es Amburgey?"
"Er weiß es."
"Tanner auch, nehme ich an."
"Ja."
"Hm", sagte er noch einmal. "Ich schätze, das erklärt einiges!"
"Was zum Beispiel?" Unruhe rumorte in mir, und ich wußte, daß Marino sehen konnte, wie ich mich innerlich wand.
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