Ein Fall für Kay Scarpetta
mußten. Dann ordneten er und Tanner die Unterlagen wieder ein. Wie einfach wäre es gewesen, ein Etikett abzureißen und in die Tasche zu stecken ...
Später gingen Amburgey und Tanner zusammen hinaus, aber Bill blieb bei mir. Wir unterhielten uns noch zehn oder fünfzehn Minuten lang in Margarets Büro. Er war liebevoll und voller Versprechungen, daß ein paar Drinks und ein gemeinsamer Abend meine Nerven beruhigen würden. Er ging vor mir, und als er das Gebäude verließ, war er allein undunbeobachtet...
Ich drängte die Bilder aus meinem Kopf, wollte sie nicht mehr sehen. Es war entsetzlich. Ich war dabei, die Kontrolle zu verlieren. Bill würde so etwas niemals tun. Vor allem, es hätte auch keinen Sinn. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß so ein Sabotageakt ihm irgendwie nutzen könnte. Falsch beschriftete Objektträger konnten nur den Fällen schaden, die er möglicherweise selbst vor Gericht bringen würde. Er würde sich selbst damit schaden. Du suchst jemanden, dem du die Schuld in die Schuhe schieben kannst, weil du der Tatsache nicht ins Auge blicken kannst, daß du wahrscheinlich Mist gebaut hast!
Diese Morde waren die schwierigsten Fälle meiner bisherigen Laufbahn, und mich packte die Angst, daß sie mich zu sehr beanspruchten. Vielleicht verlor ich meine vernünftige, überlegte Handlungsweise. Vielleicht machte ich Fehler.
Vander sagte: "Wir müssen herausbekommen, wie das Zeug zusammengesetzt ist."
Wie gewissenhafte Käufer mußten wir eine Schachtel von der Seife finden und die Inhaltsstoffe durchlesen.
"Ich suche in den Damentoiletten", bot ich an.
"Ich gehe zu den Männern."
Wir waren wie Aasgeier auf der Jagd.
Nachdem ich durch alle Damentoiletten des Gebäudes gegangen war, kam mir eine Idee, und ich ging zu Wingo. Eine seiner Aufgaben war es, die Seifenspender im Leichenschauhaus aufzufüllen. Er führte mich zu dem Vorratsschrank im Erdgeschoß, einige Türen von meinem Büro entfernt. Dort lag in einem der obersten Fächer, gleich neben einem Stapel von Staublappen, eine graue Großpackung der Handseife. Der Hauptinhaltsstoff war Borax.
Ein kurzer Blick in eines meiner Chemiehandbücher gab einen Hinweis darauf, war um das Seifenpulver wie ein Feu erwerk aufleuchtete. Borax ist eine Borverbindung, eine kristalline Substanz, die bei hohen Temperaturen Elektrizität leitet wie ein Metall. Borax wird industriell genutzt bei der Herstellung von Keramik, Spezialglas, Waschpulver und Desinfektionsmitteln bis hin zu Schleifmitteln und Raketentreibstoff. Ironischerweise wird ein großer Prozentsatz von Borax in Death Valley gefördert.
Der Freitag abend kam, und Marino rief nicht an.
Gegen sieben Uhr am nächsten Morgen parkte ich hinter meinem Bürogebäude und begann mit einem unbehaglichen Gefühl, die Einträge in dem Buch im Leichenschauhaus durchzusehen. Ich hätte mich eigentlich nicht zu vergewissern brauchen. Ich wußte es genau. Ich wäre die erste gewesen, die man verständigt hätte. Es gab keine Eintragungen, die ich nicht erwartet hätte, aber die Stille im Haus war mir rätselhaft. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß bald eine weitere Frau darauf warten würde, daß ich mich um sie kümmerte, daß es wieder passieren würde. Ich hörte nicht auf, auf Marinos Anruf zu warten.
Vander rief mich um sieben Uhr dreißig von zu Hause aus an.
"Irgend etwas?" fragte er.
"Ich rufe Sie sofort an, wenn es etwas gibt."
"Ich bleibe in der Nähe des Telefons."
Der Laser lag in seinem Labor auf einem Wagen, bereit, sofort nach unten in den Röntgenraum gebracht zu werden, falls wir ihn brauchten. Ich hatte den ersten Sektionstisch freigehalten, und gestern am späten Nachmittag hatte Wingo ihn spiegelblank geputzt und zwei Wägen mit allen nötigen chirurgisch en Instrumenten und Beweisma terialbehältern und Geräten bereitgestellt. Der Tisch und die Wägen blieben unbenutzt.
Meine einzigen Fälle waren eine Frau mit Kokain-Überdosierung aus Fredericksburg und ein bei einem Unfall Ertrunkener aus James City County.
Kurz vor zwölf waren Wingo und ich allein und beendeten mechanisch die Arbeit.
Seine Turnschuhe quietschten auf dem feuchten Linoleumboden, als er den Mop gegen die Wand lehnte und meinte: "Man sagt, sie hätten gestern nacht hundert Cops Überstunden machen lassen."
Ich fuhr fort, einen Totenschein auszufüllen. "Hoffen wir, daß es etwas ändert."
"Wenn ich der Kerl wäre, würde es das." Er fing an, einen blutigen Tisch abzuspritzen. "Der Kerl wäre
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