Ein Fall für Kay Scarpetta
diese Fälle nicht mehr in aktiver Ermittlung sind."
"Also der Fall ist nicht im Computer. Aber wie weiß das die Person, die eindringt, wenn sie nicht nachsieht?"
"Sie?"
"Sie, er - wer immer."
"Nun, sie - er, wer immer - hat das erste Mal nachgesehen und konnte Loris Fall nicht aufrufen."
"Das ergibt immer noch nicht besonders viel Sinn, Kay", beharrte er. "Schon dieser erste Versuch ergibt kaum einen Sinn. Jeder, der etwas über Computereingaben weiß, müßte sich darüber im klaren sein, daß ein Fall, dessen Autopsie an einem Samstag stattgefunden hat, kaum bis Montag in der Datenbasis sein konnte."
"Wer nicht wagt, der nicht gewinnt", murmelte ich. Ich war nervös in Bills Gesellschaft. Ich konnte einfach nicht entspannen oder mich einem vermeintlich netten Abend hingeben. Zentimeterdicke Koteletts lagen in der Küche in einer Marinade. Eine Flasche Rotwein stand auf der Theke. Lucy machte den Salat, und sie war in einer guten Stimmung, wenn man bedachte, daß wir nichts von ihrer Mutter gehört hatten, die sich irgendwo mit ihrem Illustrator herumtrieb. Lucy schien vollkommen zufrieden. In ihren Phantasien fing sie an zu glauben, daß sie nie mehr wegfahren würde, und es irritierte mich, daß sie Bemerkungen darüber machte, wie nett es werden würde, "wenn Mr. Boltz" und ich "heirateten".
Früher oder später würde ich ihre Träume zerstören müssen. Sie würde nach Hause fahren, sobald ihre Mutter nach Miami zurückgekommen war, und Bill und ich würden nicht heiraten. Ich musterte ihn, als sähe ich ihn das erste Mal. Er starrte nachdenklich auf die glühende Holzkohle, hielt sein Bier abwesend in beiden Händen, die Härchen auf seinen Armen und Beinen wirkten in der Sonne golden wie Blütenstaub. Ich sah ihn durch einen Schleier von aufsteigender Hitze und Rauch, und es schien wie ein Symbol für die Distanz, die sich zwischen uns entwickelte. Warum hatte sich seine Frau mit seiner Waffe getötet? War es nur der Nützlichkeit wegen, daß seine Pistole das nächstliegende Mittel dafür war, sich so schnell wie möglich das Leben zu nehmen? Oder war es ihre Art, ihn für Dinge, von denen ich nichts wußte, zu bestrafen?
Seine Frau war im Bett gewesen - in dem gemeinsamen Bett -, als sie sich eine Kugel in die Brust schoß. Sie hatte den Abzug an jenem Montag betätigt, nur ein paar Stunden, vielleicht sogar Minu ten, nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Ihr PERK war positiv für Sperma. Ein Hauch von Parfüm lag noch auf ihrem Körper, als ich sie am Tatort untersuchte. Was war das letzte, was Bill zu ihr gesagt hatte, bevor er zur Arbeit gegangen war?
"Auf die Erde, Kay ... "
Mein Blick wurde wieder scharf. Bill starrte mich an.
"Weit weg?" fragte er und legte einen Arm um meine Taille. "Kann ich mitkommen?"
"Ich habe nur nachgedacht."
"Worüber? Und sag mir nicht, daß es über die Arbeit war."
Ich sagte es ihm. "Bill, es fehlen Papiere aus den Akten, die du, Amburgey und Tanner neulich durchgesehen habt... " Seine Hand, die meinen Rücken massierte, hielt inne. Ich konnte die Wut in dem Druck seiner Finger spüren.
"Was für Papiere?"
"Ich bin mir nicht ganz sicher", antwortete ich nervös. Ich wagte nicht, es zu spezifizieren, wagte nicht, das PERK-Etikett zu erwähnen, das aus Lori Petersens Akte fehlte. "Ich fragte mich nur gerade, ob du vielleicht bemerkt hast, daß jemand zufällig etwas mitgenommen hat"
Er zog abrupt seinen Arm weg und rief aus: "Verdammt! Kannst du diese verfluchten Fälle nicht für einen Abend aus deinem Gehirn streichen?"
"Bill... "
"Genug, okay?" Er schob seine Hände in die Taschen meiner Shorts und vermied es, mich anzusehen. "Herrgott, Kay! Du machst mich noch verrückt. Sie sind tot. Die Frauen sind, verdammt noch mal, tot. Tot. Tot! Du und ich, wir leben. Das Leben geht weiter. Oder zumindest sollte es das. Es wird dich fertigmachen - es wird uns fertigmachen -, wenn du nicht aufhörst, dich von diesen Fällen aufsaugen zu lassen."
Aber für den Rest des Abends war meine Konzentration, während Bill und Lucy am Tisch über unbedeutende Dinge redeten, auf das Telefon gerichtet. Ich wartete immer noch darauf, daß es klingelte. Ich wartete auf Marinos Anruf.
Als es früh am Morgen klingelte, prasselte der Regen auf mein Haus und mein Schlaf war unruhig, meine Träume bruchstückhaft und beunruhigend gewesen. Ich tastete nach dem Hörer. Keiner war dran.
"Hallo?" sagte ich noch einmal und machte das Licht an. Im Hintergrund lief leise ein
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