Ein Fall für Kay Scarpetta
FahrzeugDepartment, dem Zentrallager der Stadt und natürlich dem HHSD. Grob gesagt umfaßten die Firmen etwa zehntausend Ange stellte, vom Richter bis zum Verteidiger, vom Staatsanwalt über die Polizei bis zum Mechaniker bei den staatlichen und städtischen Garagen. Irgendwo in diesem großen Haufen von Leuten war ein Mr. Niemand mit einem Reinlichkeitswahn.
Ich kam etwa gegen drei Uhr nachmittags mit einer Tasse Kaffee zurück, als Rose einen Anruf durchstellte.
"Sie ist schon länger tot", sagte Marino. Ich packte meine Tasche und rannte hinaus.
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Marino zufolge suchte die Polizei noch Nachbarn, die das Opfer am Wochenende gesehen hatten. Eine Freundin, mit der sie arbeitete, hatte am Samstag und Sonntag versucht sie anzurufen, aber es hatte niemand abgehoben. Als die Frau am Montag nicht kam, um ihre Klasse zu unterrichten, rief die Freundin die Polizei. Ein Officer ging um ihr Haus außen herum zur Rückseite. Ein Fenster im dritten Stock stand weit offen. Das Opfer hatte eine Mitbewohnerin, die anscheinend nicht in der Stadt war. Das Haus befand sich weniger als zwei Kilometer von der Stadtmitte entfernt am Rand der Virginia-CommonwealthUniversität mit mehr als zwanzigtausend Studenten. Einige der Institute, die zu der Universität gehörten, waren in restaurierten viktorianischen Häusern an der West Main untergebracht. Zur Zeit wurden nur noch Sommerseminare abgehalten. Die Studenten hielten sich auf dem Universitätsgelände auf, sie lümmelten an kleinen Tischen auf den Restaurantterrassen herum, tranken Kaffee, ihre Bücher unter den Ellenbogen geklemmt, redeten mit Freunden und genossen die sonnige Wärme eines wu nderschönen Juninachmittags.
Henna Yarborough war einunddreißig Jahre alt und lehrte Journalismus, hatte Marino mir gesagt. Sie war vergangenen Herbst aus North Carolina in die Stadt gezogen. Wir wußten nicht mehr über sie, außer daß sie tot war, und das bereits seit mehreren Tagen. Überall liefen Polizeibeamte und Reporter herum. Der Verkehr rollte langsam an dem dunkelroten, dreistöckigen Ziegelgebäude vorbei, eine blaugrüne Flagge wehte über dem Eingang. Es gab Balkonkästen mit roten und weißen Geranien und ein stahlblaues Schindeldach mit einem Art-Nouveau-Blumendesign in blassem Gelb.
Die Zufahrtsstraße war blockiert, so daß ich gezwungen war, einen halben Block weiter zu parken, und es blieb mir nicht verborgen, daß die Stimmung unter den Reportern gedrückter war als sonst. Sie drehten sich kaum um, als ich vorbeiging. Sie hielten mir keine Mikrophone oder Kameras vors Gesicht, als ob sie es irgendwie spürten, daß es ein weiteres Opfer dieser Serie war. Nummer fünf. Fünf Frauen wie sie selbst oder ihre Frauen und Geliebten waren vergewaltigt und ermordet worden.
Ein Polizeibeamter hob das gelbe Band hoch, das die Eingangstür am Ende der abgetretenen Granittreppe versperrte. Ich betrat ein düsteres Foyer und ging drei hölzerne Treppen hinauf. Oben traf ich den Polizeichef, mehrere hochgestellte Officer, Detectives und Streifenbeamte. Bill war auch da, direkt neben einer offenen Tür, und sah hinein. Unsere Blicke kreuzten sich, sein Gesicht war aschfahl.
Ich war mir seiner Anwesenheit kaum bewußt, als ich an der Tür innehielt und in das kleine Schlafzimmer hineinsah, das erfüllt war von dem süßlich-stechenden Gestank der Verwesung menschlichen Fleisches, der mit keinem Geruch auf dieser Erde vergleichbar ist. Marino hatte mir den Rücken zugewandt. Er hockte auf seinen Fersen und öffnete Kommodenschubladen, seine Hände suchten routiniert durch die Schichten von sauber zusammengefalteter Wäsche. Auf der Kommode befanden sich einzelne Flaschen mit Parfüm und Lotionen, eine Haarbürste und einige elektrische Lockenwickler. Links an der Wand stand ein Schreibtisch, und die elektrische Schreibmaschine darauf ragte aus einem Meer von Papier und Büchern hervor. Weitere Bücher standen auf einem Regal darüber und waren auf dem Parkettboden gestapelt. Die Badezimmertür war ein wenig geöffnet, das Licht im Bad ausgeschaltet, keine Fotos oder Bilder an den Wänden - als ob das Schlafzimmer seit langem nicht benutzt worden wäre. Rechts von mir stand ein Doppelbett. Ich sah zerwühlte Bettdecken und ein Büschel dunkles, verworrenes Haar. Ich achtete darauf, wo ich hintrat, und ging zu der Frau hinüber.
Ihr Gesicht war mir zugewandt, und es war so blutunterlaufen, so aufgedunsen durch die Verwesung, daß ich nicht sagen konnte, wie sie ausgesehen hatte,
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