Ein Fall für Kay Scarpetta
gegangen ist. Der andere Polizeibeamte, der vorher noch hier war, ließ mich in der Küche nachsehen. Sie ist nicht im Supermarkt gewesen. Der Kühlschrank ist so leer, wie er war, als ich gefahren bin. Es muß am Freitag abend passiert sein. Wie bei den anderen. Das ganze Wochenende über war ich in New York, und sie war hier. War so hier."
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Marino blickte im Wohnzimmer umher, sein Gesicht ausdruckslos. Abby zündete sich zitternd eine Zigarette an und drehte sich zu mir.
Ich wußte, was sie fragen würde, bevor die Worte ausgesprochen waren.
"Ist es wie bei den anderen Fällen? Ich weiß, daß Sie sie angeschaut haben," Sie zögerte, versuchte, sich zusammenzunehmen, als sie fragte: "Was hat er ihr getan?"
Ich gab ihr automatisch die übliche Antwort: "Ich werde es Ihnen erst sagen können, wenn ich sie genauer untersucht habe."
"Um Himmels willen, sie ist meine Schwester!" schrie sie. "Ich will wissen, was das Monster ihr angetan hat! O Gott! Hat sie gelitten? Bitte sagen Sie mir, ob sie gelitten hat... "
Wir ließen sie weinen, mit tiefen, schweren Seufzern großer Qual. Ihr Schmerz trug sie weit über die Grenzen hinaus, wo ein anderer sie noch erreichen konnte. Wir saßen da. Marino sah sie mit regungslosen, unergründlichen Augen an. Ich haßte mich in solchen Momenten selbst, kalt, klinisch, der vollkommene Profi, ungerührt durch den Schmerz eines anderen Menschen. Was sollte ich sagen? Natürlich hatte sie gelitten! Als sie ihn in ihrem Zimmer sah, als sie anfing zu begreifen, was passieren würde, ihr Schrecken, der um so schlimmer war, weil sie bereits viel über die ermordeten Frauen gelesen hatte, in den Berichten, die ihre eigene Schwester geschrieben hatte. Und ihr Schm erz, ihr physischer Schmerz.
"Gut. Natürlich werden Sie es mir nicht sagen", fing Abby in schnellen, überstürzten Sätzen an. "Ich weiß, wie es ist. Sie sagen es mir nicht. Sie ist meine Schwester. Und Sie werden es mir nicht sagen. Sie behalten alle Karten in Ihrer Weste. Ich weiß, wie es läuft. Und wofür? Wie viele muß der Bastard noch umbringen? Sechs? Zehn? Fünfzig? Kommen die Bullen dann dahinter?"
Marino starrte sie immer noch an. Er sagte: "Beschuldigen Sie nicht die Polizei, Miss Turnbull. Wir sind auf Ihrer Seite, versuchen zu helfen"
"Richtig!" unterbrach sie ihn. "Sie und Ihre Hilfe! Wie Sie letzte Woche geholfen haben! Wo, zum Teufel, waren Sie da?"
"Letzte Woche? Worauf genau spielen Sie an?"
"Ich spiele auf den Kerl an, der mich den ganzen Weg von der Redaktion bis nach Hause verfolgte", rief sie aus. "Er war direkt hinter mir, bog überall ab, wo ich abbog. Ich habe sogar an einem Laden angehalten, um ihn loszuwerden. Dann kam ich zwanzig Minuten später raus, und er ist wieder da! Verfolgt mich! Ich komme nach Hause und rufe sofort die Polizei. Und was tun sie? Nichts. Ein Officer kommt zwei Stunden später vorbei, um sich zu vergewissern, daß alles in Ordnung ist. Ich gebe ihm eine Beschreibung, sogar das Autokennzeichen. Hat er überhaupt nachgeschaut? Zum Teufel, nein, ich habe nichts mehr davon gehört. Der Schweinehund in dem Auto war bestimmt derjenige, der es getan hat! Meine Schwester ist tot! Ermordet. Weil irgend so ein Cop keine Lust hatte!"
Marino musterte sie, seine Augen blickten interessiert. "Wann genau war das?"
Sie zögerte. "Dienstag glaube ich. Vor einer Woche am Dienstag. Spät, vielleicht gegen zehn, zehn Uhr dreißig. Ich arbeitete lange in der Redaktion, schrie b einen Artikel zu Ende... "
Marino wirkte irritiert. "Ah, verbessern Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage, aber ich dachte, Sie wären in der Abendschicht gewesen, von sechs bis zwei Uhr morgens oder so."
"An diesem Dienstag hatte einer der anderen Reporter meine Schicht übernommen. Ich mußte früh am Tag kommen, um etwas fertig zu schreiben, was die Redaktion für die nächste Ausgabe haben wollte."
"Ja", sagte Marino. "Okay, also dieses Auto. Wann fing er an, Sie zu verfolgen?"
"Das ist schwer zu sagen. Ich habe es erst nach einigen Minuten bemerkt, nachdem ich aus dem Parkhaus herausgefahren war. Er könnte auf mich gewartet haben. Vielleicht hat er mich irgendwo gesehen. Ich weiß es nicht, er war direkt an meiner Stoßstange, seine Scheinwerfer angeschaltet. Ich fuhr langsamer, in der Hoffnung, daß er an mir vorbeifahren würde. Er fuhr auch langsamer. Ich beschleunigte. Dasselbe. Ich konnte ihn nicht abschütteln. Ich beschloß, zu Farm Fresh zu fahren. Ich wollte
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