Ein Fall für Kay Scarpetta
schrie ihn an."
"Boltz?" Ich verstand nicht.
"Kann nicht behaupten, daß ich es ihr übelnehme", antwortete er nüchtern. "Es ist ihr Haus. Ich kann es ihr nicht übelnehmen, daß sie nicht will, daß wir hier überall herumstehen und ihr sagen, daß sie nicht rein kann ... "
"Boltz?" fragte ich stumpfsinnig. "Boltz sagte ihr, sie könne nicht hereinkommen?"
"Und ein paar von den Jungs." Er zuckte mit den Achseln.
"Sie ... "
Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Leiche auf dem Bett, und in seinen Augen flackerte etwas auf. "Diese Lady hier ist ihre Schwester."
Das Wohnzimmer war voller Topfpflanzen und erfüllt von Sonnenlicht. Es lag im ersten Stock und schien frisch renoviert zu sein. Das polierte Parkett war fast vollständig bedeckt mit einem indischen Webteppich mit hellblauen und grünen geometrischen Mustern auf weißem Untergrund, die Sitzgruppe war weiß mit kleinen pastellfarbenen Kissen. An den weißen Wänden hing eine Sammlung von abstrakten Drucken des Künstlers Gregg Garbo. Es war ein Raum, den Abby nur für sich selbst gestaltet hatte, vermutete ich. Ein beeindrucke nder Raum, der Erfolg und Diszi plin ausstrahlte und zu dem Charakter paßte, den ich der Bewohnerin immer unterstellt hatte.
Sie saß zusammengekauert in der Ecke der weißen Ledercouch und rauchte eine lange, dünne Zigarette. Ich hatte Abby noch nie aus der Nähe gesehen, sie sah sehr sonderbar aus. Ihre Augen waren ungleich, das eine etwas grüner als das andere, und ihre vollen Lippen schienen nicht zum selben Gesicht zu gehören wie die spitze Nase. Sie hatte braunes Haar, das langsam grau wurde und ihre Schultern berührte, und sie hatte hohe Wangenknochen; in den Augenwinkeln und um den Mund zeichneten sich feine Linien ab. Sie hatte lange Beine, war schlank und etwa so alt wie ich, vielleicht ein paar Jahre jünger.
Sie starrte uns mit regungslosen Augen an. Ein Beamter ging hinaus, und Marino schloß leise die Tür.
"Es tut mir wirklich leid. Ich weiß, wie schwer das ist..."
Marino begann mit den üblichen Sprüchen. Er erklärte ruhig, wie wichtig es war, daß sie alle Fragen beantwortete und sich an alles erinnerte, was ihre Schwester betraf - ihre Gewohnheiten, ihre Freunde, ihre Pflichten -, so detailliert, wie sie nur konnte. Abby saß wie versteinert da und sagte nichts. Ich saß ihr gegenüber.
"Wenn ich richtig verstehe, waren Sie weg", sagte er.
"Ja." Ihre Stimme zitterte und ihr Körper ebenfalls, als wäre ihr kalt. "Ich bin Freitag nachmittag zu einem Termin nach New York gefahren."
"Was für ein Termin?"
"Ein Buch. Ich bin dabei, einen Buchvertrag auszuhandeln. Hatte einen Termin mit meinem Agenten. Bin bei einem Freund geblieben."
Der Kassettenrecorder auf dem gläsernen Couchtisch drehte sich leise. Abby starrte ihn abwesend an.
"Hatten Sie Kontakt zu Ihrer Schwester, während Sie in New York waren?"
"Ich habe versucht, sie gestern abend anzurufen, um ihr mitzuteilen, wann mein Zug ankommt." Sie holte tief Luft. "Als niemand abhob, war ich schon etwas irritiert. Dann habe ich einfach angenommen, daß sie ausgegangen ist. Ich habe es nicht noch einmal versucht, als ich angekommen war. Ich wußte, daß sie heute nachmittag unterrichtete. Ich nahm ein Taxi. Ich hatte keine Ahnung. Erst als ich hier ankam und all die Autos, die Polizei sah ... "
"Wie lange hat Ihre Schwester mit Ihnen zusammengelebt?"
"Seit letztem Jahr, als sie sich von ihrem Mann getrennt hatte. Sie wollte Abwechslung, Zeit zum Nachdenken. Ich sagte, sie solle herkommen. Sagte ihr, daß sie bei mir wohnen könnte, bis sie sich entschieden hatte, ob sie zu ihm zurückgehen würde. Das war im Herbst. Im späten August. Sie zog im August zu mir und begann, an der Universität zu arbeiten."
"Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?"
"Freitag nachmittag." Ihre Stimme hob sich. "Sie hat mich zum Zug gebracht." Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Marino zog ein verknittertes Taschentuch aus einer Gesäßtasche und gab es ihr. "Haben Sie eine Ahnung, was für Pläne sie für das Wochenende hatte?"
"Arbeiten. Sie hatte mir gesagt, daß sie zu Hause bleiben und die Vorlesungen vorbereiten würde. Soweit ich weiß, hatte sie keine Pläne. Henna ging nicht viel aus, sie hatte ein oder zwei gute Freunde, ebenfalls Professoren. Sie mußte viel für den Unterricht vorbereiten, sagte, sie würde am Samstag einkaufen gehen. Das ist alles."
"Und wo? In welchem Geschäft?"
"Ich habe keine Ahnung. Es ist egal. Ich weiß, daß sie nicht
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