Ein Fall für Kay Scarpetta
als sie noch lebte, außer daß sie weiß war und schulterlanges dunkelbraunes Haar hatte. Sie war nackt und lag auf der linken Seite, ihre Beine hochgezogen, ihre Hände waren hinter dem Rücken fest zusammengebunden. Der Täter hatte anscheinend die Kordeln von den Jalousien benutzt, und der Knoten wirkte schockierend vertraut. Ein dunkelblaues Leintuch war über ihre Hüften geworfen in einer Art, die noch immer von gedankenloser, kalter Geringschätzung zeugte. Auf dem Boden am Fuß des Bettes lag ein Schlafanzug. Das Oberteil war zugeknöpft und vom Ausschnitt bis zur Hüfte aufgeschlitzt. Die Hosen waren anscheinend an den Seiten aufgeschnitten worden.
Marino ging langsam durch das Schlafzimmer und stellte sich neben mich. "Er ist über die Leiter hochgeklettert", sagte er.
"Welche Leiter?" fragte ich.
Es gab zwei Fenster. Das eine, auf das Marino starrte, war offen und näher am Bett.
"An der Mauer draußen", erklärte er, "ist eine alte eiserne Feuerleiter. So ist er reingekommen. Die Geländer sind rostig. Etwas davon ist abgesplittert und liegt auf dem Sims, wahrscheinlich von seinen Schuhen."
"Und er ging auch wieder auf diesem Weg", folgerte ich laut.
"Kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber es sieht so aus. Die Tür unten war verschlossen. Wir mußten sie aufbrechen. Aber draußen", fügte er hinzu und sah wieder in Richtung auf das Fenster, "ist hohes Gras unter der Leiter. Keine Fußabdrücke. Es regnete in Strömen Samstag nacht, also das bringt uns keinen verdammten Schritt weiter."
"Hat dieses Haus eine Klimaanlage?" Ich war schweißgebadet.
"Nein. Auch keine Ventilatoren. Nicht ein einziger."
Er wischte sein gerötetes Gesicht mit der Hand ab. Sein Haar klebte auf seiner feuchten Stirn, unter seinen geröteten Augen lagen tiefe dunkle Ringe. Marino sah aus, als ob er seit einer Woche nicht geschlafen oder die Kleider gewechselt hätte.
"War das Fenster verschlossen?" fragte ich.
"Keines davon -" Er bekam einen überraschten Ausdruck auf dem Gesicht, als wir uns im gleichen Moment zur Tür umdrehten. "Was
zum Teufel...?"
Eine Frau schrie im Korridor zwei Stockwerke tiefer herum. Füße trampelten, männliche Stimmen waren zu hören.
"Verlassen Sie mein Haus! O Gott... Verlassen Sie mein Haus, Sie verdammter Mistkerl!" schrie die Frau.
Marino schob sich abrupt an mir vorbei, und seine Schritte hallten laut auf den hölzernen Stufen. Ich konnte hören, wie er etwas sagte, und fast sofort hörte das Geschrei auf. Die lauten Stimmen ebbten zu leisem Gemurmel ab.
Ich fing mit der Untersuchung der Leiche an. Sie war genauso warm wie der Raum, die Leichenstarre hatte sich schon wieder gelöst. Sie war unmittelbar nach Eintritt des Todes kalt und steif geworden, hatte sich dann wieder erwärmt, als die Temperatur draußen anstieg.
Ich mußte das Leintuch nicht weit zurückschlagen, um zu sehen, was sich darunter befand. Für einen Moment schien mein Atem und mein Herz stillzustehen. Ich zog das Leintuch vorsichtig wieder vor und fing an, meine Handschuhe anzuziehen. Es gab nichts, was ich hier noch untersuchen konnte. Nichts.
Als ich Marino die Treppen wieder heraufkommen hörte, drehte ich mich um, um ihm zu sagen, daß die Leiche in die Bettdecken gehüllt in das Leichenschauhaus gebracht werden sollte. Aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich erstarrte, sprachlos vor Staunen. In der Tür neben ihm stand Abby Turnbull. Was, in Gottes Namen, dachte Marino, was er da tat? Hatte er den Verstand verloren? Abby Turnbull, die Starreporterin.
Dann bemerkte ich, daß sie Sandalen trug, Bluejeans und eine weiße Baumwollbluse. Ihr Haar war nach hinten gebunden. Sie war nicht geschminkt und hatte weder Kassettenrecorder noch Notizbuch bei sich, nur eine Leinentasche. Sie starrte entsetzt auf das Bett, ihr Gesicht war verzerrt vor Schrecken.
"Großer Gott, nein!" Sie preßte die Hand vor ihren offenen Mund.
"Sie ist es also", sagte Marino mit leiser Stimme.
Sie trat zögernd näher. "Mein Gott! Henna. O mein Gott..."
"War das ihr Zimmer?"
"Ja. Ja. Oh, bitte, Gott... "
Marino machte eine Kopfbewegung und bedeutete einem Beamten, den ich nicht sehen konnte, zu kommen und Abby Turnbull hinauszubringen. Ich hörte ihre Schritte auf den Stufen, hörte sie stöhnen.
Ich fragte Marino ruhig: "Wissen Sie, was Sie da tun?"
"Hey. Ich weiß immer, was ich tue."
"War sie das, die herumgeschrien hat?" fuhr ich benommen fort. "Schrie sie die Polizei an?"
"Nein. Boltz war gerade gekommen. Sie
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