Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
ein Raubtier starrte ich Jürgen an. »Ich habe gesagt RAUS!«, zischte ich jetzt leise und gefährlich.
Jürgen zog seine Hose hoch, schloss den Knopf, machte den Reißverschluss zu und fummelte umständlich an seinem Gürtel.
Ich würde ihn umbringen. Ich wusste es. Ich würde ihn umbringen. Wieder packte ich zu und erwischte ihn am Oberarm. Die Messer? Wo hatte ich die Küchenmesser? Ach was! Ich schubste den Kerl Richtung Ausgangstür. »RAUS, oder ich bring dich um.«
Jürgen schaute mir direkt in die Augen. Dann zog sich eine Fratze des Grinsens über sein Gesicht. »Das wirst du mir büßen!« Und fort war er.
Ich verschloss die Tür, und noch bevor ich nachdenken konnte, was gerade passiert war, wurde mir speiübel. Die Sklaven-Männchen fielen um, und das riesige hölzerne Burgtor fiel auf die am Boden liegenden Sklaven und begrub diese unter sich. Ein Speisebrei-Tsunami rollte tosend heran. Ich kniete vor der Toilette und kotzte und kotzte. Es wollte nicht aufhören.
»Wo bist du? Es ist jetzt neun Uhr! Ich fahre gleich zu Jürgen ins Haus. Ruf mich doch bitte an.« Wieder eine Nachricht meiner Mutter.
Ich musste sie anrufen. Jetzt. Sofort. Keinesfalls würde ich bei Jürgen im Haus anrufen. Ich wischte mir notdürftig den Mund ab und hetzte ans Telefon.
»Ich war bei Silke nebenan. Wir haben uns verquatscht. Ich muss noch lernen. Lieb von dir, ja sicher. Ne ne ... mir gehtʼs gut. Alles in Ordnung. Ich komisch? Nein. Ich bin nur müde. Ja sicher. Bis morgen.«
Erschöpft ließ ich den Hörer auf die Gabel fallen. Ich war fix und fertig. Ausgepumpt. Ausgelaugt. Leer. Kraftlos. Angewidert von mir. Angewidert von Jürgen. Angewidert von meinem eigenen Bett. Ich putzte akribisch die Toilette, wechselte die Bettwäsche, duschte ausgiebig und fiel ins Bett. Alles musste so weitergehen wie bisher. Ich musste noch disziplinierter sein. Noch konsequenter. Nichts in meinem Leben würde ich dem Zufall überlassen. Alles musste seine Ordnung haben. Alles musste überschaubar und planbar sein. Keine Schwäche zeigen. Stark sein. Unerbittlich das Ziel vor Augen. Koste es, was es wolle.
Nach wie vor fuhr ich freitags nach Waldstadt. Unmerklich veränderte sich das Verhalten meiner Mutter. Jürgen hatte wieder mit seinen Sticheleien und seinen Intrigen begonnen. Er ließ keine Gelegenheit aus, mich schlechtzumachen und mich zu provozieren. Für meine Mutter war nichts mehr genug. Es reichte nicht, dass ich an den Wochenenden nach Waldstadt fuhr.
»Ich bin wirklich enttäuscht von dir«, jammerte sie eines Abends am Telefon. »Du machst dir in Ruhrstadt einen schönen Abend, und Jürgen hat so viel zu tun. Er ist genauso enttäuscht wie ich. Du wolltest ihm doch helfen, das neue Buchhaltungsprogramm zu installieren. Was soll das, Christine? Erst erzählst du wunders, was du alles beruflich gemacht hast und was du alles kannst, und dann drückst du dich.«
»Ich sitze hier nicht abends rum, sondern ich lerne! Und nicht ICH habe Jürgen angeboten, dieses Programm zu installieren, sondern ER hat das so beschlossen, dass ich es gefälligst zu machen habe.« Mir reichte es.
»Jetzt hör aber auf, Christine!« Meine Mutter nahm wieder ihren Eiskeller-Ton auf.
Das Gespräch endete mit dem Fazit, dass ich ohnehin nichts zu tun hätte, die Ausbildung etwas für Doofe sei und ich mit meinem faulen Hintern abends mein Sofa platt drückte. Diese Anfeindungen kannte ich bereits.
Es ging auf Weihnachten zu. Julia, die Tochter von Ursula, Mutters Freundin, war vierzehn Jahre alt und umschwärmte Jürgen. Ich hätte kotzen können. Sie nahm ihm Kassetten mit Herzschmerz-Gedudel für seinen Jaguar auf, und ich bekam mit, wie Jürgen ihr am Telefon mit säuselnder Stimme Honig um den Mund schmierte. »Nein, nein, Kleines. Wirklich superschön die Kassette. Mensch, da haste dir aber Mühe gemacht. Da freue ich mich aber.«
Als Julia mit ihrer Mutter Stress hatte, verbot Ursula ihr, zum Konzert der Kelly Family zu gehen. Jürgen kaufte sogleich zwei Karten, fuhr zu Ursula und überredete sie, Julia mit ihm nach Köln fahren zu lassen. Natürlich setzte er durch, was er sich vorgenommen hatte, und die beiden rauschten im Jagi-Baby los.
Ich war fassungslos. Ich fragte meine Mutter, ob sie es nicht merkwürdig finden würde, dass Jürgen mit diesem jungen Mädchen zu einem Konzert der Kelly Family fuhr.
»Du bist genauso missgünstig wie dein Alter!«, schrie mich meine Mutter an. »Wolltest du jetzt noch eifersüchtig werden?
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