Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
Das Mädchen ist froh, wenn Jürgen sich um es kümmert. Und Ursula hat seit der Scheidung von Ulrich genug Probleme um die Ohren. Du bist doch echt verhaltensgestört.«
An einem Samstagmorgen, kurz vor Weihnachten, ging ich dann mit Jürgen in die Stadt. Keine Ahnung, warum und wieso die beiden es wieder einmal geschafft hatten, mich dazu zu überreden. Innerlich schüttelte ich über mich selbst den Kopf. Ich steckte in diesem Film drin und wollte nur noch raus. Jürgen kaufte bei Douglas das gesamte Sortiment von Oilily. Duschgel, Eau de Toilette, Bodylotion und zu guter Letzt noch eine extra Flasche von dem Duft.
»Packen Sie alles schön ein. Nur die zweite Flasche Parfum nicht.«
Erstaunt fragte ich, für wen denn diese Flasche sei, und ich betete innerlich, dass dieser Perversling nicht etwa meinte, ICH würde mir dieses Zeug aufsprühen.
»Für mich«, antwortete Jürgen. »Ich finde den Duft so toll. Ich benutze den selber.«
Mir wurde übel. Mir wurde wirklich schlecht. Das war alles so abstrus, so ätzend, so durchsichtig. Ich konnte doch nicht allen Ernstes die Einzige sein, der dieses offensichtliche Spielchen auffiel ... WOLLTEN meine Mutter und Ursula es nicht erkennen?
Jürgen kaufte Handtäschchen, Schmuck und Parfum und war nicht mehr zu bremsen. Als wir zu meiner Mutter fuhren, hatte er für Julia Geschenke für über tausend Mark gekauft. Ich musste weg hier. Ich musste sofort nach Ruhrstadt zurück. Das war alles entsetzlich krank hier.
Zu Hause fuhr ich sogleich zum Stall und erfuhr von dem Bauern, dass heute Abend die Weihnachtsfeier stattfinden würde. »Komm doch auch vorbei«, lud er mich ein.
Auf diese Feier freute ich mich enorm. Es war wie ein Befreiungsschlag. Kein Anruf aus Waldstadt, keine Fahrt über die Autobahn, keine Julia, kein Jürgen, keine Mutter. Mit dem Bauern trank ich gleich zu Beginn einige Johannisbeerlikörchen und schmetterte zu später Stunde ein ganz besonderes Weihnachtsliedchen. »Oh Tannenbaum. Oh Tannenbaum. Die Bullen sind längst abgehauʼn! Der dicke Benz, der ist gestohlʼn, der kommt bestimmt sofort nach Polʼn! Oh Tannenbaum! Oh Tannenbaum! Die Bullen sind längst abgehauʼn!« Ich hatte zehn lustige Strophen am späten Nachmittag komponiert, weil jeder aus dem Stall aufgefordert worden war, sich etwas Schönes für den gemeinsamen Abend auszudenken. Mit über dreißig Leuten völlig gemischten Alters saßen wir auf Strohballen in der Deele und sangen aus Leibeskräften. Die Stimmung war überwältigend, die Leute schrien vor Lachen, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Ruhrstadt fühlte ich mich frei und unbeschwert. Man mochte mich, man lachte über meine blöden Sprüche, und man lachte mit mir. Der Bauer schlug mir freundschaftlich mit seiner riesigen Pranke auf die Schulter. »Du bist mir ja ʼne Deene!«, gluckste er. Auch er wurde immer fröhlicher.
Eine gestylte Blondine, mir schräg gegenüber sitzend, beäugte mich argwöhnisch. Ich spürte ihre Ablehnung deutlich. »Prost!«, schmetterte ich meinem Nachbarn zu. Er war der Sohn der Bauersleute. Ein großgewachsener hübscher Kerl mit breiten Schultern. Erst vor kurzem waren wir uns in der Stallgasse begegnet, und interessiert hatte mich Felix gefragt, was ich denn da für ein Pony habe. Zugegeben: Neben seinem Pferd sah Capriola aus wie eine geschrumpfte Micky Maus, aber PONY? Felix hatte noch nie zuvor einen Lipizzaner aus der Nähe betrachtet und war ganz überrascht, dass es diese Rasse auch in Schwarz gab. Und stolz hatte ich ihm erzählt, dass es unter tausend Lipizzanern vielleicht einen einzigen schwarzen gab. Dass ich in schönster Harmonie Lektionen mit meinem Pferd ritt, die sein eigenes Pferd nicht beherrschte, schien ihm ein wenig zu imponieren. Felix gefiel mir auf Anhieb. Er hatte eine sehr liebenswerte und zurückhaltende Art. Sein Gesicht war pure Güte. An seinem Blick konnte ich erkennen, dass dieser Mann keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.
»Ja denn auch Prost!«, antwortete Felix, und wir kippten den Schnaps in unsere Kehlen.
»Warte, ich sitze hier so blöde auf der Kante, ich rutsch mal eben zu dir rüber. Dann müssen wir uns den Strohballen teilen.« Und schon saß ich neben ihm. Es war ein schönes Gefühl. Die Nähe zu Felix hatte so gar nichts Bedrohliches. Wir kicherten albern. Felix war auch nicht mehr so ganz nüchtern. Die Blondine funkelte mich immer noch an. »Sag mal«, flüsterte ich in Felixʼ Ohr, »wer ist denn dieses Blondchen da
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