Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
gegenüber? Die sieht ja reichlich unlustig aus!«
Felix flüsterte zurück. »Das ist meine Freundin.«
Über mein belämmertes Gesicht amüsierte er sich köstlich. Ich wollte schon aufstehen, aber er protestierte. »Ne ne«, sagte er, »bleib man ruhig hier sitzen. Das ist schon okay so.«
Am nächsten Wochenende fuhr ich das erste Mal nicht nach Waldstadt. Meine Mutter hatte sich zwischenzeitlich nur zwei Mal gemeldet, und diese Gespräche bestanden nur aus Vorwürfen. Das Konto bei der Bank hatte ich überzogen. Ich würde es nach Weihnachten wieder ausgleichen. Felix ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Meine Nachbarin Silke hörte sich meine Schwärmereien interessiert an. Wenn Rolf abends unterwegs war, saßen wir zusammen, und es entwickelte sich langsam, aber stetig eine nette Frauenfreundschaft.
Probleme mit dem Alleinsein kannte ich nicht. Weder war ich erpicht darauf, einen Mann unter allen Umständen kennen lernen zu wollen, noch hatte ich beschlossen, mein Leben als Single weiterzuführen. Es würde sich schon etwas ergeben, dessen war ich mir sicher. Ich spürte aber, dass meine innere Uhr tickte und dass sich ein Bedürfnis in mir regte, das ich zuvor nicht gekannt hatte. Ich war dreißig und genoss dieses Alter sehr. Irgendwie, so fand ich, hörte sich das als Zahl erwachsener an als neunundzwanzig. Ich legte sehr viel Wert darauf, mich erwachsen zu fühlen und als Erwachsene respektiert zu werden. Warum das so war, wusste ich nicht.
Heiligabend in diesem Jahr verlief katastrophal. Ich spürte eine bleierne Müdigkeit, als ich am Nachmittag in Waldstadt von der Autobahn fuhr. Das konnte ja heiter werden. Jürgen absolvierte sein übliches Programm mit seiner Exfrau und seinen Söhnen. Nichts, aber auch wirklich gar nichts hatte sich verändert. Die Zeit in diesem Kaff war stehen geblieben. Das Einzige, das sich geändert hatte, war, dass meine Mutter beschlossen hatte, Heiligabend bei Ursula zu feiern. Wer weiß, ob sie es war, die diesen Entschluss gefasst hatte. Sie stellte es so dar, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass Jürgen ihr diesen »Entschluss« unmerklich eingeredet hatte. Meine Mutter war immer überzeugt, dass sie und NUR sie, ihre eigenen Entschlüsse fasste. Und ich hatte stets das Gefühl, dass Jürgen und NUR Jürgen diese Entscheidungen steuerte und zu seinen Gunsten beeinflusste. Er fand schon immer die Freundinnen meiner Mutter, die wiederum selbst Mütter von Töchtern waren, sehr nett. Mütter von Söhnen im Umfeld meiner Mutter wurden so lange in den Dreck gezogen, bis meine Mutter diese Kontakte abbrach.
»Ich habe mir selbst ein Weihnachtsgeschenk gemacht und einen Brief an ›Brot für die Welt‹ geschrieben. Ich möchte ein Mädchen adoptieren und ihm ein schönes Zuhause geben.« Jürgen setzte sein Glas Wein ab und beweihräucherte sich mal wieder selbst. Es war mittlerweile nach zweiundzwanzig Uhr. Ich war irgendwann auf Ursulas Couch eingenickt, als Jürgens laute Stimme mich plötzlich unsanft geweckt hatte.
»Da liegt die auf der Couch und schläft. Es ist Weihnachten, Christine, und du hast nichts Besseres zu tun, als zu pennen?« Verächtlich hatte er den Kopf geschüttelt.
Mit Ursula und meiner Mutter war kein unterhaltsames Gespräch möglich gewesen. Die beiden wirkten derart unzufrieden und hatten ausschließlich Ursulas anstehende Scheidung und ihren angeblich verhaltensgestörten Exmann als Thema. Es war immer dasselbe: Entweder die Leute im Umfeld meiner Mutter »tickten sauber«, oder sie waren »verhaltensgestört«. Eine gemäßigte Linie, Toleranz und Generosität waren Attribute, die meiner Mutter und Jürgen völlig fremd waren. Es gab einfach nur »ihre Welt«, und sie allein setzten die Maßstäbe für das, was sie als »normal« bezeichneten und duldeten. Das alles hatte mich ermüdet.
»DU hast bestimmt nicht geschlafen, Julia, stimmtʼs?«, dröhnte Jürgens Stimme. Julia kicherte, und mit einer »Das-kann-dochaber-MIR-nicht-passieren-heiligster-Jürgen«-Miene schüttelte sie energisch den Kopf. Mich nervte ihr Getue. Sie strahlte »ihren« Jürgen mit glänzenden Augen und erwartungsfroh an. Mit übertrieben blau geschminkten Augen und rot gemalten Lippen blickte die Vierzehnjährige hingebungsvoll zu ihm auf.
Es war Zeit für die Bescherung.
Julia packte aus und packte aus und packte aus.
»Oh Jürgen«, quietschte sie verzückt bei jedem Päckchen. »Oililiiiiiiii iiiee. Daaaaaas ist ja tollllll.« Sie schmiss sich in
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